Maigret und der Spion
während Chabot sie zugleich grimmig und flehend ansah.
»An eine mögliche Schuld von Génaro oder Victor glauben Sie nicht?«
»Blödsinnig!« kommentierte sie gleichmütig.
»Bleibt nur noch der unbekannte Gast, der Sie ange b lich ein paar Schritte begleitet hat. Er könnte noch ei n mal zurückgekommen sein, allein oder in Ihrer Begle i tung … «
»Und wie wäre er hineingekommen?«
»Sie arbeiten lange genug dort, um sich einen Nac h schlüssel besorgt zu haben. «
Erneutes Achselzucken.
»Immerhin hatte Delfosse das Zigarettenetui!« erw i derte sie. »Und er hat sich versteckt!«
»Das ist nicht wahr! Das Etui war am nächsten mo r gen bei Ihnen!« schrie Chabot. »Ich habe es gesehen! Ich schwöre es! … «
Sie wiederholte:
»Es war Delfosse!«
Im Nu war das schönste Wortgefecht im Gange, das durch die Ankunft eines Polizisten unterbrochen wurde, der leise mit dem Kommissar sprach.
»Lassen Sie ihn eintreten!«
Herein kam ein gutbürgerlicher Herr von ungefähr fünfzig Jahren mit Schmerbauch und quer darüber einer dicken Uhrkette. Er verspürte das Bedürfnis, eine wü r devolle, ja feierliche Miene aufzusetzen.
»Man hat mich ersucht vorbeizukommen … « , b e gann er und blickte sich erstaunt um.
»Sie sind Monsieur Lasnier!« unterbrach ihn der Kommissar. »Setzen Sie sich bitte! Sie müssen entschu l digen, daß ich Sie bemüht habe, aber ich würde gerne erfahren, ob Sie im Laufe des gestrigen Tages bemerkt haben, daß Ihnen Geld in der Ladenkasse fehlte. «
Der Süßwarenhändler aus der Rue Léopold machte große Augen, wiederholte:
»In meiner Ladenkasse?«
Vater Chabot beobachtete ihn ängstlich, als hinge von dieser Antwort sein Urteil über den ganzen Fall ab.
»Ich nehme an, wenn beispielsweise zweitausend Franc gefehlt hätten, dies nicht unbemerkt geblieben wäre?«
»Zweitausend Franc? … Wirklich, ich verstehe nicht … «
»Macht nichts. Beantworten Sie einfach meine Frage! Haben Sie einen Fehlbetrag in der Kasse festgestellt?«
»Keineswegs!«
»Hat nicht Ihr Neffe Sie gestern aufgesucht?«
»Warten Sie! Doch, ich glaube, er ist vorbeigeko m men, wie er es von Zeit zu Zeit tut … Weniger um mich zu sehen, als um sich mit Schokolade einzudecken … «
»Und Sie haben nie bemerkt, daß Ihr Neffe Geld aus der Kasse genommen hat?«
Der Süßwarenhändler war empört, schien die andern zu Zeugen aufzurufen für den Schimpf, den man seiner Familie zufügte.
»Mein Schwager hat Geld genug, um seinem Sohn zu geben, was er braucht. «
»Entschuldigen Sie, Monsieur Lasnier. Ich danke I h nen.«
»Mehr wollten Sie mich nicht? … «
»Mehr wollte ich Sie nicht fragen.«
»Aber was ließ Sie bloß glauben? … «
»Im Augenblick kann ich Ihnen nichts sagen … G i rard! Begleiten Sie Monsieur Lasnier bitte hinaus … «
Und der Kommissar nahm seine Wanderung wieder auf, während Adèle sich unverfroren erkundigte:
»Werde ich hier noch gebraucht?«
Der Kommissar warf ihr einen Blick zu, der Bände sprach und sie verstummen ließ. Mehr als zehn Minuten lang herrschte Schweigen. Offensichtlich wartete man auf irgend jemand oder irgend etwas. Monsieur Chabot wagte nicht zu rauchen. Er wagte nicht, seinen Sohn a n zusehen. Er fühlte sich hier so gehemmt, wie ein armer Patient im Wartezimmer eines berühmten Arztes.
Jean seinerseits folgte dem Kommissar mit seinen Blicken und war jedesmal versucht, ihn anzusprechen, wann immer er an ihm vorbeikam.
Endlich waren Schritte auf dem Flur zu hören. Es wurde an die Tür geklopft.
»Herein!«
Zwei Männer traten ein: Génaro, klein und unte r setzt, in einem hellen Anzug mit Halbgürtel, und Victor, den Chabot noch nie im Straßenanzug gesehen hatte und der, ganz in Schwarz, wie ein Geistlicher aussah.
»Ich bekam Ihre Vorladung vor einer Stunde … « , b e gann der Italiener zungenfertig.
»Ich weiß, ich weiß! Sagen Sie mir lieber, ob Sie heute nacht Graphopulos’ Zigarettenetui in René Delfosses Händen gesehen haben?«
Génaro machte eine kleine entschuldigende Verbe u gung.
»Persönlich gebe ich mich wenig mit den Gästen ab, aber Victor wird Ihnen sagen können … «
»Schön! Also beantworten Sie meine Frage!«
Jean sah dem Kellner in die Augen. Sein Atem ging schwer. Doch Victor schlug lammfromm die Augen ni e der und murmelte:
»Ich möchte diesen jungen Leuten nicht Unrecht tun, da sie immer sehr freundlich zu mir gewesen sind. Aber ich nehme an, daß ich die Wahrheit sagen muß, nicht
Weitere Kostenlose Bücher