Maigret und der Spion
diese Anschuldigung erwartet?«
»Ich? … Nein.«
»Und glauben Sie, daß Graphopulos selbst den We i denkoffer wegschaffte?«
»Ich glaube im Augenblick noch gar nichts!«
Kommissar Delvigne, langsam ärgerlich, mit rotem Kopf, verstummte und lehnte sich in seine Wagenecke zurück. Im Gefängnis angekommen, erledigte er rasch die Aufnahmeformalitäten, wobei er vermied, seinen Begleiter anzusehen.
»Der Wärter wird Sie führen … « , sagte er zum A b schied bloß.
Gleich danach bekam er dann doch Gewissensbisse. Kaum auf der Straße, fragte er sich, ob er dem Kollegen gegenüber nicht zu schroff gewesen war.
›Na, er hat mich ja selbst gebeten, ihn nicht zu freun d lich zu behandeln.‹
Ja, aber nicht, wenn sie unter sich waren. Außerdem war das, bevor der Mann vom ›Hôtel Moderne‹ seine Erklärung abgab. Leistete sich Maigret, weil er aus Paris war, etwa einen Spaß mit ihm?
›In diesem Fall geschieht’s ihm recht …‹
Girard wartete im Büro, wo er die von Kommissar Maigret diktierten Absätze las.
»Es geht vorwärts!« stellte er befriedigt fest, als sein Chef eintrat.
»Ach, du findest, daß es vorwärts geht, wie?«
Der Ton war so, daß Girard große Augen machte.
»Aber … diese Verhaftung … und der Koffer, der … «
»Der Koffer, der … Ja! Ich kann dir nur raten, noch mehr zu reden von dem Koffer, der! … Verbind mich mit dem Telegrafenamt!«
Als er die Verbindung bekam, gab er folgendes Tel e gramm auf:
direktion kriminalpolizei paris. erbitte dringend genaues signalement und möglichst fingerabdrücke kommissar maigret. kriminalpolizei lü t tich.
»Was heißt das?« wagte Girard zu fragen.
Es bekam ihm schlecht. Sein Chef starrte ihn wütend an.
»Das heißt gar nichts, verstanden! Das heißt, daß ich genug habe von deinen blöden Fragen! … Das heißt, daß man mich in Frieden lassen soll! … Das heißt … «
Er merkte plötzlich, daß seine Wut lächerlich wirkte und schloß brüsk mit einem einzigen Wort:
»Sch…!«
Dann verzog er sich in sein Büro, zur einsamen Med i tation über die dreizehn Punkte Kommissar Maigrets.
8
›Chez Jeanne‹
Schön brav bleiben!« mahnte die üppige Frau mit a n züglichem Lachen. »Man kann uns sehen … «
Sie stand auf, ging zu dem großen Fenster, vor dem ein Netzvorhang hing, und fragte:
»Wartest du auf den Zug nach Brüssel?«
Es war eine kleine Bar hinter der Gare des Guill e mins. Der ziemlich große Raum war sauber, die hellen Fliesen des Fußbodens sorgfältig geschrubbt, die Tische glänzend poliert.
»Komm, setz dich!« murmelte der Mann, der vor e i nem Bier saß.
»Wirst du brav sein?«
Und die Frau setzte sich, nahm die auf der Sitzbank ruhende Hand des Mannes und legte sie auf den Tisch.
»Bist du Vertreter?«
»Woran siehst du das?«
»An nichts … Ich weiß nicht … Nein! Wenn du nicht brav bleibst, geh ich zur Tür … Sag mir lieber, was du trinkst … Nochmal das gleiche? Für mich auch?«
Was die Bar zweifelhaft wirken ließ, war vielleicht g e rade ihre Sauberkeit, die darin herrschende Ordnung, ein unbestimmtes Etwas, das mehr an einen privaten Haushalt denken ließ als an ein öffentliches Lokal.
Die Theke war winzig, ohne Bierzapfhahn, und d a hinter standen kaum zwanzig Gläser auf dem Regal. Auf einem Tisch beim Fenster lag eine Näharbeit, anderswo ein Korb mit Bohnen, die man abzufädeln begonnen hatte.
Es war reinlich. Es roch nach Suppe, nicht nach A l kohol. Man hatte den Eindruck, wenn man hereinkam, in die Privatsphäre einer Familie einzudringen.
Die Frau, die fünfundreißig Jahre alt sein mochte, wirkte appetitlich, anständig und mütterlich zugleich.
Sie verbrachte ihre Zeit damit, die Hand wegzuschi e ben, die der scheue Gast alle Augenblicke auf ihr Knie legte.
» … im Lebensmittelhandel?«
Plötzlich horchte sie auf. Eine Treppe führte vom Gastraum in den ersten Stock. Dort oben hatte es G e räusche gegeben, als wäre jemand aufgestanden.
»Entschuldigst du mich einen Augenblick?«
Sie ging lauschen, trat dann in einen Korridor hinaus und rief:
»Monsieur Henry!«
Als sie zu ihrem Gast zurückkehrte, zeigte sich dieser beunruhigt, verwirrt, zumal ein Mann in Hemdsärmeln und ohne Kragen aus dem Hinterzimmer erschien und lautlos die Treppe erklomm. Man sah nur noch seine Beine, dann nichts mehr.
»Was ist los?«
»Nichts … Ein junger Mann, der gestern abend b e trunken war und den wir dort oben übernachten li e ßen … «
»Und …
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