Maigret und der Spion
… Mein Sohn ist frei … Der Kommissar hat mich persönlich angerufen, daß er sich getäuscht hatte … «
Es war ungewiß, ob er lachte oder weinte. Jedenfalls hinderte ihn ein Schleier vor den Augen, die vertrauten Straßen zu sehen, die vorbeizogen.
»Vielleicht komme ich sogar vor ihm nach Hause! … Das wäre gut, denn meine Frau ist imstande, ihn mit Vorwürfen zu empfangen! Es gibt Dinge, die Frauen nicht verstehen … Haben Sie ihn etwa auch nur einen Augenblick für schuldig gehalten? … Unter uns? … «
Er war rührend. Er bettelte den Straßenbahnfahrer fast an, nein zu sagen.
»Ach, ich, wissen Sie … «
»Sie hatten doch irgendeine Meinung … «
»Seit meine Tochter einen Nichtsnutz heiraten mu ß te, der ihr ein Kind gemacht hat, traue ich der Jugend von heute nicht mehr besonders … «
Maigret hatte sich in den Sessel niedergelassen, in dem Jean Chabot vorhin gesessen hatte, dem Schreibtisch von Kommissar Delvigne zugewandt, von dessen Tabak, der dort lag, er sich bediente.
»Haben Sie die Antwort aus Paris?«
»Woher wissen Sie das?«
»Kommen Sie! Sie hätten es ebenso erraten … Und dieser Weidenkoffer? Hat man schon herausbekommen, wie er aus dem ›Hotel Moderne‹ geschafft wurde?«
»Nicht im geringsten!«
Kommissar Delvigne war knurrig. Er zürnte seinem Pariser Kollegen.
»Unter uns gesagt, Sie machen sich wohl lustig über uns, oder? Geben Sie zu, daß Sie etwas wissen … «
»Jetzt bin ich dran, zu sagen: Nicht im mindesten! Und das stimmt! Ich habe ungefähr die gleichen A n haltspunkte wie Sie. An Ihrer Stelle hätte ich genau gleich gehandelt und die zwei Jungen laufen lassen. A l lerdings würde ich versuchen herauszufinden, was Graphopulos wohl im ›Gai-Moulin‹ gestohlen haben mag … «
»Gestohlen?«
»Oder zu stehlen versuchte!«
»Er? Der Tote? … «
»Oder wen er wohl tötete … «
»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!«
»Wohlgemerkt! Tötete oder zu töten versuchte … «
»Sehen Sie, Sie haben doch Informationen, die mir fehlen … «
»Kaum! Der wesentliche Unterschied zwischen uns liegt darin, daß Sie ein paar hektische Stunden hinter sich haben, mit ständigem Hin und Her zwischen hier und Staatsanwaltschaft, mit dem Empfang von Leuten, mit Telefonanrufen, während ich in meiner Zelle im Saint-Léonard vollkommene Ruhe genoß … «
»Und über Ihre dreizehn Punkte nachgedacht haben!« erwiderte Kommissar Delvigne nicht ohne eine Spur von Bissigkeit.
»Noch nicht über alle … Bloß einige … «
»Zum Beispiel den Weidenkoffer.«
Maigret zeigte ein unschuldiges Lächeln.
»Immer noch? … Na, am besten sage ich Ihnen jetzt gleich, daß ich es war, der diesen Koffer aus dem Hotel wegbrachte … «
»Leer?«
»Niemals! Mit der Leiche drin!«
»Sie wollen also behaupten, daß das Verbrechen … «
» … im ›Hôtel Moderne‹ begangen wurde, ganz ric h tig. Im Zimmer von Graphopulos! Und das ist tatsäc h lich das Ärgerlichste an der ganzen Geschichte … H a ben Sie Streichhölzer?«
9
Der Spitzel
Maigret lehnte sich im Sessel zurück, besann sich kurz, wie es seine Art war, wenn er zu einer lä n geren Erklärung ansetzte, sagte so einfach wie möglich:
»Sie werden es gleich genauso verstehen wie ich und es mir nicht übelnehmen, daß ich ein bißchen gemogelt habe. Nehmen wir zunächst Graphopulos’ Besuch bei der Präfektur in Paris. Er bittet um Polizeischutz. Er gibt keinerlei Erklärung. Schon vom nächsten Tag an verhält er sich, als bedaure er seinen Schritt.
Die erste Hypothese ist, daß es sich um einen Irren handelt, einen Psychopathen, einen Menschen, der an Verfolgungswahn leidet …
Die zweite ist, daß er sich wirklich bedroht weiß, aber bei näherer Überlegung unter dem Schutz der Polizei nicht sicherer fühlt …
Die dritte ist, daß er zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Bewachung angewiesen war …
Lassen Sie mich erklären: Da haben wir einen Mann in den besten Jahren, der über ein ansehnliches Verm ö gen verfügt und allem Anschein nach völlig ungebunden ist. Er kann den Zug nehmen oder das Flugzeug, in j e dem beliebigen Luxushotel absteigen.
Welche Drohung kann ihn derart erschrecken, daß er sich an die Polizei wendet? Eine eifersüchtige Frau, die davon redet, ihn umzubringen? Daran glaube ich nicht. Er braucht nur genug Kilometer zwischen sie und sich zu bringen.
Ein persönlicher Feind? Ein Mann wie er, Sohn eines Bankiers, hätte den nötigen Einfluß, ihn verhaften zu
Weitere Kostenlose Bücher