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Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Titel: Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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um zu erkennen, daß die dicke Rostschicht vor nicht allzu langer Zeit an einigen Stellen abgeblättert war. Mehr noch! Durch die Lupe sah Maigret deutliche Kratzspuren an dem komplizierten Schlüsselloch – Spuren, die nur von einem umständlich gehandhabten Schlüssel stammen konnten.
    »Muß morgen fotografiert werden«, beschloß er im stillen.
    Während er mit gesenktem Kopf zurückkehrte, begann er das Bild des toten Monsieur Gallet in einem neuen Licht zu sehen.
    Doch anstatt greifbarer und deutlicher zu werden, verschwamm es immer mehr. Die Züge des Mannes im zu engen Jackett begannen sich zu verzerren, bis sie nichts Menschliches mehr an sich hatten.
    Das Foto, das einzige greifbare, theoretisch intakte Porträt, das Maigret besaß, löste sich in hundert flüchtige Bilder auf, die sich beim besten Willen nicht wieder zusammenfügen ließen.
    Der Kommissar dachte an das halbe Gesicht, die magere, behaarte Brust, den Schulhof, den vor Ungeduld zappelnden Arzt. Und dann an das blaue Boot in Saint – Fargeau, das Emile Gallet selbst gezimmert hatte, an seine verbesserten Angelgeräte, an seine Frau in malvenfarbener Seide, im Trauerschleier, apathisch, affektiert, die Spießbürgerin in Person …
    Jener Spiegelschrank, vor dem Gallet sein Jackett zurechtgezupft haben mußte … Jene Briefe mit dem Aufdruck der Firma Niel & Co. der er nicht mehr angehörte … Die monatlichen Abrechnungen, die er gewissenhaft erstellte, als hätte er seinen Beruf nicht schon vor achtzehn Jahren aufgegeben …
    Die versilberten Becher, die Tortenschaufeln, die er wohl selbst gekauft hatte !
    Daß der Musterkoffer nicht gefunden worden war, war merkwürdig. Er mußte ihn irgendwo eingestellt haben.
    In Gedanken versunken, war Maigret stehengeblieben, keine drei Meter von dem Fenster entfernt, durch das der Mörder auf sein Opfer geschossen hatte. Das Fenster interessierte ihn nicht. Er fühlte, wie seine Nerven sich spannten, als bedürfe es nur noch einer winzigen Anstrengung, damit die hundert Puzzlestücke, aus denen Gallets Bild sich zusammensetzte, an ihren Platz zurückkehrten. Doch dann sah er wieder Henry vor sich, den steifen, blasierten jungen Mann, als den er ihn kennengelernt hatte, und den Erstkommunikanten mit seinem abstoßenden Jungengesicht.
    Der Fall, der von Inspektor Grenier aus Nevers als kleine, schmutzige Geschichte bezeichnet worden war und den Maigret so ungern übernommen hatte, nahm immer größere Dimensionen an, je ungreifbarer der Tote wurde.
    Zehnmal verscheuchte Maigret eine Wespe, die wie ein brummendes Miniaturflugzeug um seinen Kopf schwirrte.
    »Achtzehn Jahre!« sagte er laut.
    Achtzehn Jahre lang Briefe fälschen und mit Niel unterzeichnen. Postkarten via Rouen befördern lassen. Und in all der Zeit ein braves, biederes, ereignisloses Leben in Saint-Fargeau führen …
    Mit der Mentalität des Verbrechers war der Kommissar vertraut. Ob Mörder, ob kleiner Gauner – immer war es irgendeine Leidenschaft, die sein Handeln bestimmte.
    Und das war es, wonach er jetzt in dem Gesicht mit dem Spitzbart, den schweren Lidern, dem übermäßig breiten Mund suchen mußte!
    Gallet bastelte Angelgeräte, nahm alte Uhren auseinander.
    Maigret schüttelte den Kopf. Das konnte nicht der Grund sein, weshalb dieser Mann achtzehn Jahre lang log. Weshalb er ein Doppelleben auf sich nahm, das ihn soviel Zeit und Nervenkraft kostete!
    Und das war noch nicht das Schlimmste. Es gibt unnatürliche Situationen, die ein Mensch monatelang, ja, sogar jahrelang aufrechterhalten kann.
    Aber achtzehn Jahre waren eine lange Zeit. Und Gallet wurde älter. Madame Gallet legte sich Fettpolster und ein Übermaß an Würde zu. Henry wuchs heran, wurde Erstkommunikant, bestand das Abitur, wurde volljährig. Er übersiedelte nach Paris, nahm sich eine Geliebte …
    Und Emile Gallet schickte jahrein, jahraus Briefe der Firma Niel an seine eigene Adresse, schrieb im voraus Postkarten an seine Frau, kopierte geduldig seine gefälschten Bestellisten.
    »Er mußte Diät halten …«
    Madame Gallets Stimme tönte noch in Maigrets Ohr.
    Sein Puls ging schneller. Seine Pfeife war erloschen. Er bemerkte es nicht.
    »Achtzehn Jahre – und hat sich nie erwischen lassen!«
    Nein und nochmals nein! Der Kommissar kannte sich in diesen Dingen besser als jeder andere aus. Ohne diesen Mord wäre Gallet friedlich in seinem Bett gestorben. Er hätte alle seine Papiere rechtzeitig in Ordnung gebracht. Und Monsieur Niel wäre höchst überrascht

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