Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
gewesen, wenn er die Todesanzeige bekommen hätte.
Es war nicht nur unwahrscheinlich. Es war so ungeheuerlich, daß Maigret vor dem Bild, das er da selbst entworfen hatte, geradezu Furcht empfand. Eine undefinierbare Furcht, wie man sie vor jedem übernatürlichen Phänomen empfindet.
Es war reiner Zufall, daß der Kommissar in diesem Augenblick den Kopf hob und auf der weißen Parkmauer, genau gegenüber dem Zimmer des Ermordeten, einen dunklen Fleck bemerkte.
Beim Nähertreten stellte er fest, daß es eine Lücke zwischen zwei Steinen war, die vor kurzem vergrößert worden war, wahrscheinlich mit der Spitze eines Schuhs. Etwas weiter oben fand sich eine ähnliche, wenn auch weniger deutliche Spur.
Jemand war dort hinaufgeklettert, hatte sich an einem herunterhängenden Zweig festgehalten. Der Kommissar schickte sich an, der Spur zu folgen, hielt jedoch plötzlich inne und drehte sich instinktiv um.
Am Eingang zum Brennesselweg stand eine Frau, hochgewachsen, ziemlich üppig, blond, mit dem klassischstrengen Profil einer griechischen Statue. Sie mußte ihn beobachtet haben.
Als Maigret in ihre Richtung blickte, ging sie weiter.
Eléonore Boursang! durchfuhr es Maigret. Bis zur Stunde hatte er sich überhaupt nicht mit Henry Gallets Freundin beschäftigt. Dennoch war er sicher, daß er sich nicht täuschte.
Er erreichte die Straße in dem Moment, als sie um die nächste Ecke bog.
»Bin gleich zurück!« wehrte er den Wirt ab, der ihn aufzuhalten versuchte.
Solange die davoneilende Frau ihn nicht sehen konnte, folgte er ihr im Laufschritt, um den Abstand zu verringern. Denn abgesehen davon, daß der Name Eléonore Boursang genau zu ihrem Typ paßte, entsprach sie durchaus dem Bild, das Maigret sich von Henrys Geliebter gemacht hatte.
Als er die Ecke erreichte, stellte er ärgerlich fest, daß sie verschwunden war. Umsonst spähte er ins Halbdunkel eines kleinen Kramladens und in die nahe Schmiedewerkstatt. Sie war weg.
Er zuckte die Schultern. Pech gehabt! Aber zumindest wußte er, wo er sie finden konnte.
5
Das sparsame Liebespaar
Der Polizeiwachtmeister stellte sich die Arbeit eines Pariser Kriminalbeamten an diesem Morgen zweifellos sehr verlockend vor.
Er war seit vier Uhr früh auf den Beinen und hatte schon über dreißig Kilometer auf dem Fahrrad zurückgelegt – erst im kalten Morgengrauen, dann in der immer heißer werdenden Sonne –, bevor er zur regelmäßigen Gästebuchkontrolle im ›Hôtel de la Loire‹ eintraf.
Jetzt war es zehn Uhr. Die meisten Hotelgäste spazierten am Wasser oder badeten im Fluß. Zwei Pferdehändler diskutierten auf der Terrasse. Eine Serviette in der Hand, rückte der Wirt die Tische und die Lorbeerkübel zurecht.
»Wollen Sie nicht dem Kommissar schnell guten Tag sagen?« fragte Monsieur Tardivon.
Er senkte die Stimme.
»Er sitzt im Mordzimmer mit einer Menge amtlicher Dokumente und großen Fotos aus Paris …«
So faßte der Wachtmeister sich ein Herz und klopfte an Maigrets Tür.
»Der Wirt hat mir den Floh ins Ohr gesetzt, Kommissar«, erklärte er verlegen. »Als er sagte, Sie seien daran, den Tatort zu untersuchen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich weiß, in Paris arbeitet man mit anderen Methoden, deshalb würde ich Ihnen gern bei der Arbeit zusehen, wenn es Sie nicht stört, von Ihnen kann man sicher viel lernen …«
Er war ein sympathischer junger Mann, dem der naive Wunsch, sich beliebt zu machen, im runden, rosigen Gesicht stand. Er versuchte sich möglichst unauffällig in eine Ecke zu verziehen, was ihm nicht leichtfiel mit seinen Nagelschuhen, seinen Ledergamaschen und dem Käppi, das er ratlos in den Händen drehte.
Das Fenster stand weit offen. Die Morgensonne fiel auf den Brennesselweg, so daß das Zimmer im Gegenlicht fast dunkel wirkte. Maigret, in Hemdsärmeln, die Pfeife zwischen den Zähnen, den Kragen aufgeknöpft, die Krawatte gelockert, strahlte so viel Zufriedenheit aus, daß es sogar dem Wachtmeister auffiel.
»Setzen Sie sich! Viel Interessantes gibt es zwar nicht zu sehen.«
»Sie sind zu bescheiden, Kommissar …«
Maigret wandte den Kopf ab, um ein belustigtes Lächeln zu verbergen. Er hatte alle seine Akten – vom gerichtsmedizinischen Rapport bis zu den Fotos vom Tatort und von dem Ermordeten, die der Erkennungsdienst aufgenommen hatte – vor sich ausgebreitet, nachdem er sich vergewissert hatte, daß weder der Tisch noch die mit einem rötlichen Rankenmuster verzierte Tischdecke aus Kattun
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