Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
Woche gewesen sein.«
»Am Samstag, stimmt. Meines Wissens hat er Sie sogar zweimal besucht.«
»Donnerwetter, Sie sind ein Mordskerl, Kommissar! Zweimal, ja. Am Vormittag weigerte ich mich zwar, ihn zu empfangen. Aber am Nachmittag rempelte er mich im Park an …«
»Wollte er Geld?«
»Sie werden es mir nicht glauben, aber das weiß ich tatsächlich nicht mehr. Jedenfalls tischte er wieder die alten Königsmärchen auf … Ah! Trinken Sie aus! Den kleinen Rest werden wir doch nicht stehenlassen wollen … Unter uns gesagt, halten Sie es nicht auch für wahrscheinlicher, daß er sich umgebracht hat? Er muß ja völlig am Ende gewesen sein.«
»Der Schuß wurde aus sieben Meter Entfernung abgegeben, und der Revolver wurde nicht gefunden …«
»Ach so. Dann natürlich … Und was schließen Sie daraus? Daß irgendein Vagabund oder Zigeuner dort vorbeiging und …«
»Kaum anzunehmen. Gallets Zimmer liegt an einer Sackgasse, und diese endet an Ihrer Parkmauer …«
»Am alten Eingang«, verbesserte Saint-Hilaire. »Das Tor wird seit Jahren nicht mehr benutzt. Und wo der Schlüssel liegt, mag der Himmel wissen. Wie wär’s mit einer zweiten Flasche?«
»Danke, nein. Sie haben wohl nichts gehört?«
»Was soll ich gehört haben?«
»Den Schuß am Samstagabend.«
»Nein. Ich gehe immer früh zu Bett. Von dem Mord hörte ich erst am nächsten Tag durch den Diener.«
»Und Sie dachten nicht daran, der Polizei von Monsieur Cléments Besuchen zu erzählen?«
»Wozu denn?«
Sein Lachen klang gezwungen.
»Ich sagte mir, der arme Kerl sei schon genug gestraft. Und wenn man Saint-Hilaire heißt, ist man nicht sonderlich scharf darauf, seinen Namen in den Zeitungen zu lesen. Außer natürlich in den Gesellschaftsnachrichten!«
Wieder hatte Maigret dieses unbestimmte und unangenehme Gefühl, das ihn seit Tagen verfolgte wie ein ausgeleierter Refrain: daß alles, was mit Emile Gallets Tod zusammenhing, unecht klang, daß alles knarrte und quietschte – angefangen vom Toten selbst bis zur Stimme seines Sohnes, bis zum Gelächter dieses Tiburce de Saint-Hilaire.
»Sie sind bei unserem wackeren Tardivon abgestiegen, nicht wahr? Wußten Sie, daß er früher Schloßkoch war? Seither hat er sein Glück gemacht … Ehrlich? Kein Gläschen mehr? … Der Gärtner, dieser Idiot, hat heute den Rasensprenger kaputtgemacht. Ich wollte ihn eben reparieren, als Sie kamen. Auf dem Land muß man überall selber anpacken, wissen Sie. Aber falls Sie ein paar Tage hierbleiben, Kommissar, kommen Sie doch abends zu einem gemütlichen Schwatz herüber! Im Hotel herumzusitzen, muß kein Vergnügen sein, mit all diesen Touristen …«
Am Parktor ergriff er unaufgefordert Maigrets Hand und schüttelte sie mit überschwenglicher Herzlichkeit.
Während der Kommissar dem Fluß entlang zurückschlenderte, notierte er im Geist zwei Tatsachen:
Erstens war es ausgeschlossen, daß Tiburce de Saint-Hilaire von der öffentlich verkündeten Belohnung nichts gewußt hatte. Infolgedessen mußte ihm klargewesen sein, welche Bedeutung die Polizei jeder Auskunft über Cléments Kommen und Gehen am letzten Samstag beimaß. Dennoch hatte er gewartet, bis die Polizei zu ihm kam, und erst geredet, als er merkte, daß diese schon im Bild war.
Zweitens hatte er mindestens einmal gelogen, und zwar, als er behauptete, er hätte sich geweigert, Clément zu empfangen, und dieser hätte ihn am Nachmittag im Park angerempelt.
Es stand nun aber fest, daß die Begegnung im Park am Vormittag stattgefunden hatte. Am Nachmittag hingegen waren die beiden Männer im Salon der Villa gesehen worden, wo sie sich anscheinend stritten.
»Also kann auch alles übrige falsch sein«, folgerte der Kommissar. An der Stelle, wo der Brennesselweg in die Uferstraße einmündete, blieb er stehen. Auf der einen Seite erhob sich die weißgetünchte Mauer, die Saint-Hilaires Schloßpark begrenzte. Gegenüber lag der niedrige Gästetrakt des ›Hôtel de la Loire‹.
Der Weg war von dichtem Gras, Disteln und weißen Nesseln, an denen sich die Wespen gütlich taten, überwuchert. An die ehemalige Allee erinnerten nur die alten Eichen zu beiden Seiten, die wohltuenden Schatten spendeten. Im Hintergrund konnte man ein altes, sehr stilvolles schmiedeeisernes Tor erkennen.
Aus reiner Neugier näherte sich Maigret dem Tor, das laut Aussage des Schloßbesitzers seit Jahren nicht mehr benutzt worden war und dessen Schlüssel unauffindbar war. Ein flüchtiger Blick auf das Schloß genügte,
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