Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
Ich weiß nicht, was er Ihnen erzählt hat oder ob er auf Ihre Fragen überhaupt geantwortet hat. Aber ich kann beschwören, daß er von acht Uhr abends bis zur Abfahrt des Zuges keinen Augenblick von meiner Seite gewichen ist. Er war nervös. Er fürchtete, seine Mutter würde von unserem Verhältnis erfahren. Er hängt sehr an ihr, aber er wußte, daß sie versuchen würde, uns auseinanderzubringen.
Ich bin kein junges Mädchen mehr. Zwischen uns besteht ein Altersunterschied von fünf Jahren. Und seit drei Jahren bin ich seine Geliebte …
Mir liegt sehr viel daran, den Mörder so bald wie möglich hinter Schloß und Riegel zu sehen. Vor allem wegen Henry. Er ist intelligent genug, um zu wissen, daß die Begegnung mit seinem Vater ein Grund wäre, ihn dieses scheußlichen Verbrechens zu verdächtigen.«
Maigret beobachtete sie immer noch mit Erstaunen. Und er wunderte sich, daß ihn ihre mutige Offenheit so wenig beeindruckte.
Bei den letzten Worten hatte ihre Stimme etwas heftiger geklungen. Trotzdem hatte sie sich völlig in der Gewalt. Maigret schob scheinbar achtlos eine Großaufnahme von der Leiche über den Tisch, die vom Erkennungsdienst gemacht worden war. Die junge Frau warf einen kurzen Blick darauf und schaute wieder weg.
»Haben Sie denn noch nichts gefunden?«
»Kennen Sie jemanden namens Jacob?«
Sie sah ihm gerade in die Augen, wie um ihn aufzufordern, sich von ihrer Ehrlichkeit zu überzeugen.
»Der Name ist mir unbekannt. Wer ist es? Der Mörder?«
»Möglich«, erwiderte er ausdruckslos, erhob sich und begleitete sie zur Tür.
Eléonore Boursang verließ das Zimmer so selbstsicher, wie sie es betreten hatte.
»Darf ich gelegentlich wiederkommen, Kommissar, um zu hören, ob sich etwas Neues ergeben hat?«
»Wann immer Sie wollen!«
Der Wachtmeister wartete geduldig im Korridor. Als die Besucherin verschwunden war, blickte er den Kommissar fragend an.
»Was hat man Ihnen am Bahnhof gesagt?« erkundigte sich Maigret.
»Der junge Gallet ist abends um elf Uhr zweiunddreißig nach Paris zurückgefahren.«
»Und das Verbrechen wurde zwischen elf Uhr abends und halb ein Uhr nachts verübt«, murmelte der Kommissar nachdenklich. »Wenn man sich beeilt, ist man von hier in zehn Minuten am Bahnhof Tracy-Sancerre. Der Mord kann zwischen elf und zwanzig nach elf begangen worden sein. Wenn es bis zum Bahnhof nur zehn Minuten sind, so sind es von dort bis hierher auch nicht mehr … Es wäre also auch möglich, daß Gallet in der Zeit zwischen drei Viertel zwölf und halb eins umgebracht wurde, und zwar von einer Person, die vom Bahnhof her kam …
Doch das erklärt noch nicht die Sache mit dem Parktor! Und überhaupt! Was zum Teufel hatte Emile Gallet auf der Mauer zu suchen?«
Der Wachtmeister hatte sich wieder auf seinen Stuhl in der Ecke gesetzt und nickte zustimmend. Gespannt wartete er auf die Fortsetzung. Aber es kam keine.
»Gehen wir einen Aperitif trinken!« schlug Maigret vor.
6
Das Stelldichein auf der Mauer
» Noch immer nichts?«
»Obolus!«
»Und was haben Sie vorher gesagt?«
» Vorbereitungen . Aber sicher bin ich nicht. tungen fehlt. Das Wort kann auch mit ten enden …«
Maigret seufzte, verließ achselzuckend das kühle Zimmer, in dessen Mitte ein großer, magerer, rothaariger junger Mann mit gerunzelter Stirn und stoischer Ruhe über eine Arbeit gebeugt saß, die einen Mönch entmutigt hätte.
Er hieß Joseph Moers, und sein Akzent verriet seine flämische Abstammung.
Als Laborbeamter des Wissenschaftlichen Erkennungsdienstes war er auf Maigrets Weisung nach Sancerre gefahren und hatte sich mit seinen Instrumenten, unter denen sich ein seltsamer Spirituskocher befand, im Zimmer des Toten häuslich eingerichtet.
Seit sieben Uhr früh saß er nun an diesem Tisch und blickte kaum einmal auf, außer wenn der Kommissar unversehens hereinplatzte oder den Kopf durchs Fenster streckte.
»Nichts Neues?«
»Ich mache Sie …«
»Wie?«
»Soeben habe ich Ich mache Sie herausbekommen. Allerdings fehlt das letzte e …«
Auf dem Tisch vor Moers lagen hauchdünne Glasscheibchen, die er nach und nach mit einem auf dem Kocher erwärmten Spezialleim bestrich.
Dann wieder trat er zum Kamin, hob behutsam einen Fetzen verkohlten Papiers auf und legte ihn auf eine Platte. Die Fetzen waren so durchsichtig und spröd, daß sie unter der leisesten Berührung zu zerfallen drohten. Manchmal dauerte es fünf Minuten, bis Moers sie mit Hilfe von Wasserdampf weich machen und dann auf
Weitere Kostenlose Bücher