Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
sich als Makler betätigt. Sovrinos ist eine kleine Bank, die sich hauptsächlich mit Börsengeschäften befaßt. Er sitzt also gewissermaßen an der Quelle. Wir haben alle unsere Ersparnisse in Börsenpapieren angelegt …«
»Haben Sie getrennte Konten?«
»Natürlich. Man weiß ja nie, was die Zukunft bringt, nicht wahr?«
»Wieviel haben Sie beide bis heute mit Spekulieren verdient?«
»Schwer zu sagen. Mein Vermögen besteht aus Papieren, deren Wert von einem Tag zum andern steigen oder fallen kann. Ich schätze, so zwischen vierzig- und fünfzigtausend Franc …«
»Und Gallet?«
»Er hat mehr. Er wollte mich nicht immer beteiligen, wenn er sich auf gewagte Spekulationen einließ, wie zum Beispiel mit den La-Plata-Minen im vergangenen August. Meines Wissens besitzt er etwa hunderttausend Franc …«
»Und wann gedenken Sie aufzuhören?«
»Sobald wir fünfhunderttausend beisammen haben. Wir rechnen, daß wir noch drei Jahre so weitermachen …«
Maigret betrachtete sie mit einer Bewunderung, in die sich Abscheu mischte.
Sie war dreißig, Henry war fünfundzwanzig. Sie liebten sich oder hatten zumindest beschlossen zusammenzuleben, aber ihre Beziehungen waren so exakt und kaufmännisch geregelt wie die Beziehung zwischen zwei Geschäftspartnern. Und sie sprach unbefangen, ja, mit spürbarem Stolz darüber!
»Seit wann sind Sie in Sancerre?«
»Ich kam am 20. Juni, um hier einen Monat Urlaub zu machen.«
»Warum sind Sie nicht im ›Hôtel de la Loire‹ oder im ›Commerce‹ abgestiegen?«
»Die sind mir zu teuer. In der ›Pension Germain‹ bezahle ich nur zweiundzwanzig Franc pro Tag …«
»Henry besuchte Sie am 25. Um wieviel Uhr kam er an?«
»Er ist nur am Wochenende frei. Und den Sonntag verbringt er immer in Saint-Fargeau, das haben wir so abgemacht. Er kam am Samstagvormittag. Am Abend fuhr er mit dem letzten Zug zurück.«
»Wann war das?«
»Um elf Uhr zweiunddreißig. Ich begleitete ihn zum Bahnhof.«
»Wußten Sie, daß sein Vater in Sancerre war?«
»Henry erzählte mir von seiner Begegnung. Er war wütend. Er sagte, sein Vater sei nur gekommen, um uns nachzuspionieren. Henry wollte unter allen Umständen vermeiden, daß seine Eltern sich in seine Privatangelegenheiten mischten …«
»Wußten die Gallets von den hunderttausend Franc?«
»Unmöglich. Henry war schließlich volljährig. Er hatte ein Recht auf ein eigenes Leben, nicht wahr?«
»Wie stand er zu seinem Vater?«
»Er verübelte ihm seinen Mangel an Ehrgeiz. Sagte, es sei eine Schande, daß ein Mann in seinem Alter immer noch Blechzeug verkaufe, wie er es nannte. Aber respektlos war er nie, schon gar nicht seiner Mutter gegenüber …«
»Er hatte also keine Ahnung, daß Emile Gallet in Wirklichkeit ein Betrüger war?«
»Ein Betrüger? Monsieur Gallet …?«
»… Und daß er schon seit achtzehn Jahren kein ›Blechzeug‹ mehr verkaufte?«
»Das ist unmöglich!«
Täuschte sich Maigret? Oder lag wirklich etwas wie Bewunderung in dem Blick, den sie auf die Kleiderpuppe warf?
»Ich bin sprachlos, Kommissar! … Er? … Mit seinen Schrullen, seinen lächerlichen Anzügen, seinen Rentner-Allüren!«
»Was haben Sie am Samstagnachmittag gemacht?«
»Henry und ich? Wir machten einen Spaziergang auf den Höhen über dem Städtchen. Dann trennten wir uns. Er kehrte zum ›Hotel de Commerce‹ zurück, und da begegnete er seinem Vater … Um acht Uhr abends trafen wir uns wieder und spazierten bis zur Abfahrt seines Zugs noch eine Weile an der Loire entlang.«
»Kamen Sie hier vorbei?«
»Wir hielten es für besser, eine zweite Begegnung zu vermeiden.«
»Sie kehrten also allein vom Bahnhof zurück, überquerten die Brücke …«
»… und ging geradewegs nach Hause. Zu dieser späten Stunde bin ich nicht gern allein auf der Straße.«
»Kennen Sie Tiburce de Saint-Hilaire?«
»Wer ist das? Den Namen habe ich nie gehört … Hören Sie, Kommissar, Sie werden doch nicht etwa Henry verdächtigen …?«
Ihre Züge hatten sich belebt, doch ihre Stimme blieb ruhig. »Im Grunde bin ich nur wegen Henry zu Ihnen gekommen. Weil ich ihn so gut kenne … Er war schon immer kränklich, wissen Sie. Mit der Zeit hat sein Charakter sich verändert. Er ist trübsinnig geworden. Und argwöhnisch … Manchmal redet er stundenlang kein Wort, wenn wir beisammen sind.
Daß er ausgerechnet hier seinem Vater begegnen mußte, war reiner Zufall, auch wenn das unglaubwürdig klingt.
Henry ist zu stolz, um sich zu verteidigen.
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