Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
die drei Eichen fällten und hier hinaustransportierten …«
»Wußte das dein Herr?«
»Natürlich!«
»Erinnerst du dich, ob er diesen Ausgang schon mal benutzt hat?«
»Nicht seit dem vorigen Jahr …«
Vor Maigrets innerem Auge zeichnete sich eine neue Folge von Geschehnissen ab: Tiburce de Saint-Hilaire steigt auf das Faß, schießt auf Gallet, verläßt den Park durch das alte Tor, dringt durch das offene Fenster in das Zimmer seines Opfers …
Aber nein, das war zu unwahrscheinlich! Selbst wenn das verrostete Schloß keinen Widerstand geleistet hätte, hätte Saint-Hilaire mindestens drei Minuten gebraucht, um vom Tor bis in Gallets Zimmer zu gelangen. Und in diesen drei Minuten sollte Emile Gallet mit seinem halb zerfetzten Gesicht nicht geschrien haben, nicht zusammengebrochen sein, nichts weiter getan haben, als das Messer aus der Tasche zu ziehen, um einen möglichen Angreifer abzuwehren?
Wie falsch das klang! Es quietschte förmlich, so wie das Gittertor an jenem Abend gequietscht haben mochte! Und doch ließen die vorhandenen Indizien keine anderen Schlüsse zu.
»Sicher ist, daß jemand sich hinter der Mauer befand!«
Dagegen bewies nichts, daß Saint-Hilaire dieser Jemand war, wenn man von der Geschichte mit dem verlorenen Schlüssel und der Tatsache absah, daß der Unbekannte sich im Park des Schlößchens aufgehalten hatte.
Andererseits weilten an jenem Abend zwei weitere Personen in Sancerre, die in Emile Gallets Leben eine Rolle spielten und die ein Interesse an seinem Tod haben konnten: Henry Gallet und Eléonore Boursang. Und daß diese beiden den Brennesselweg nie betreten hatten, war noch längst nicht erwiesen!
Maigret zerquetschte eine Schmeißfliege auf seiner Wange. Im gleichen Moment sah er Moers am Fenster auftauchen.
»Kommissar!«
»Was gibt’s?«
Doch der Flame war schon wieder verschwunden.
Ehe Maigret sich umwandte, um den Rückweg durch den Park anzutreten, rüttelte er versuchsweise am Tor. Wider Erwarten gab es nach.
»Na so was! Es ist ja gar nicht abgeschlossen!« rief der Gärtner und musterte überrascht das Schloß. »Finden Sie das nicht merkwürdig?«
Es war sinnlos, den Mann zu bitten, Saint-Hilaire nichts von dem Vorfall zu erzählen. Er war zu einfältig, und es hätte die Dinge nur noch kompliziert.
»Sie haben mich gerufen?« fragte er wenige Minuten später den jungen Moers, der eben ein mit schwarzen Fetzen vollgeklebtes Glasscheibchen gegen eine brennende Kerze hielt.
»Kennen Sie einen Mann namens Jacob?«
Moers hatte den Kopf in den Nacken gelegt und betrachtete befriedigt sein Werk.
»Sieh an! Was ist mit ihm?«
»Nicht Besonderes, außer daß einer dieser Briefe mit Monsieur Jacob unterzeichnet war.«
»Und das ist alles?«
»Das ist sozusagen alles, ja. Das Briefpapier war kariert. Es könnte aus einem Heft oder Notizblock stammen. Auf dieser Sorte Papier läßt sich die Schrift kaum mehr entziffern. Das Wort hier könnte unbedingt heißen, aber die ersten beiden Buchstaben sind unleserlich. Und hier steht Montag … «
Stirnrunzelnd, die Pfeife zwischen den Zähnen, hörte Maigret zu.
»Ein Wort, das Gefängnis bedeuten könnte. Es kann aber auch Gefangener oder Gefangene heißen … Außerdem das Bruchstück Barz… , worunter ich mir hier eigentlich nur Barzahlung vorstellen kann. Irgendwo kommt auch die Ziffer 20000 vor …«
»Keine Adresse?«
»Doch! Clignancourt , aber das sagte ich schon. Leider ist es unmöglich, die Wörter in der richtigen Reihenfolge zusammenzusetzen.«
»Was ist mit der Schrift?«
»Da haben wir Pech. Der Brief wurde auf der Maschine getippt.«
Monsieur Tardivon hatte es sich mittlerweile zur Pflicht gemacht, Maigret höchstpersönlich zu bedienen, und er tat es auf eine betont diskrete Art, die er mit einem Hauch von Vertraulichkeit zu verbinden wußte.
»Telegramm, Kommissar!« rief er, bevor er anklopfte.
Er hätte für sein Leben gern gewußt, was sich in diesem Zimmer abspielte! Als der Kommissar Miene machte, die Tür wieder zu schließen, fragte er schnell:
»Darf ich Ihnen eine kleine Erfrischung bringen?«
»Nein, danke!« erwiderte Maigret kurz, worauf der Wirt sich bekümmert entfernte.
Das Telegramm kam von der Pariser Kriminalpolizei und lautete:
Emile Gallet hinterläßt kein Testament. Erbschaft besteht aus Haus Saint-Fargeau, geschätzt auf hunderttausend inklusive Mobiliar, sowie dreitausendfünfhundert auf Bankkonto. Aurore Gallet erhält aus Lebensversicherung,
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