Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
ihn an Madame Gallet erinnerte. Eine jüngere Madame Gallet, und wahrscheinlich hübscher, als Henrys Mutter es in ihrer Jugend gewesen sein mochte, aber dieser insofern ähnlich, als man auch ihr die Herkunft auf den ersten Blick ansah.
»Sicher verstehen Sie meine Lage. Nach diesem … dieser entsetzlichen Tragödie wollte ich sofort abreisen, aber Henry riet mir in seinem letzten Brief, in Sancerre zu bleiben. Seither habe ich Sie zwei- oder dreimal von weitem gesehen. Wie ich hörte, sind Sie mit der Fahndung nach dem Täter beauftragt. Deshalb habe ich mich entschlossen, Sie aufzusuchen und zu fragen, ob Sie schon irgendwelche Anhaltspunkte haben. Ich befinde mich in einer sehr heiklen Situation, da ich offiziell weder für Henry noch für seine Familie existiere …«
Es hörte sich nicht wie eine vorbereitete Rede an. Die Worte kamen ihr spontan und ohne jede Spur von Nervosität von den Lippen.
Maigret bemerkte, wie ihr Blick von Zeit zu Zeit das Messer streifte, das aus der Kleiderpuppe ragte, doch der Anblick schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken.
»Hat Ihr Freund Ihnen aufgetragen, mich auszuhorchen?« Der schroffe Ton war beabsichtigt.
»Natürlich nicht. Er ist immer noch zutiefst erschüttert von dem schweren Schlag, der ihn getroffen hat … Daß ich nicht bei ihm sein konnte, als sein Vater begraben wurde, war für uns beide entsetzlich.«
»Kennen Sie ihn schon lange?«
Sie schien nicht zu bemerken, daß die Unterhaltung in ein Verhör überging. Ihre Stimme klang unverändert gelassen.
»Seit drei Jahren. Ich bin jetzt dreißig. Henry ist erst fünfundzwanzig. Ich bin Witwe …«
»Sind Sie in Paris geboren?«
»In Lille. Mein Vater war Hauptbuchhalter in einer Spinnerei. Mit zwanzig heiratete ich einen Textilingenieur, der im ersten Jahre unserer Ehe in seiner Fabrik tödlich verunglückte. Eigentlich hätte ich von der Firma eine Witwenrente bekommen sollen, aber die behauptete, mein Mann habe den Unfall selbst verschuldet.
So mußte ich selber für meinen Unterhalt aufkommen, und da ich in Lille, wo jeder mich kannte, nicht arbeiten wollte, ließ ich mich in Paris nieder. Ich arbeitete als Kassiererin in einem Geschäft an der Rue Reaumur.
Natürlich hatte ich einen Prozeß gegen die Spinnerei angestrengt. Er schleppte sich jahrelang von einer Instanz zur andern dahin.
Erst vor zwei Jahren entschied das Gericht zu meinen Gunsten, worauf ich meine Stelle aufgab, da ich nicht länger auf Arbeit angewiesen war …«
»Aber sie arbeiteten noch, als Sie Henry Gallet kennenlernten?«
»Ja. Als Beauftragter der Bank Sovrinos kam er häufig zu meinen Chefs …«
»Und von einer Heirat war zwischen Ihnen nie die Rede?«
»In der ersten Zeit sprachen wir davon, aber wenn ich mich wiederverheiratet hätte, ehe das Urteil gefällt war, wären meine Chancen vor Gericht weniger gut gewesen.«
»So wurden Sie Gallets Geliebte?«
»Man kann es ruhig so nennen, es stört mich nicht. Wir leben zusammen wie Eheleute. Seit drei Jahren sehen wir uns jeden Tag, essen zusammen, morgens, mittags und abends …«
»Aber er wohnt nicht bei Ihnen in der Rue de Turenne?«
»Der Familie wegen. Sie haben die gleichen strengen Auffassungen wie meine Eltern. Um häusliche Szenen zu vermeiden, hat Henry ihnen unser Verhältnis verschwiegen. Aber daß wir heiraten werden, sobald es keine Hindernisse mehr gibt und wir genügend Geld beisammen haben, um in Südfrankreich leben zu können, das stand für uns von Anfang an fest.«
Selbst indiskrete Fragen beantwortete sie mit der größten Seelenruhe. Und mit einer ganz natürlichen Gebärde zog sie den Rocksaum hinunter, als der Blick des Kommissars zufällig ihre Beine streifte.
»Leider muß ich Sie bitten, etwas ausführlicher zu werden … Henry nimmt alle Mahlzeiten bei Ihnen ein … Beteiligt er sich an den Kosten?«
»Das ist kein Problem. Ich führe Buch, wie jede ordentliche Hausfrau. Am Monatsende erstattet er mir die Hälfte meiner Auslagen zurück.«
»Sie sagten, Sie wollen später in Südfrankreich leben. Verfügt Henry über irgendwelche Ersparnisse?«
»Wir legen beide Geld beiseite. Sie werden wohl selbst bemerkt haben, daß er nicht besonders kräftig ist. Er braucht viel frische Luft, sagen die Ärzte. Aber wie kann man an der frischen Luft leben, wenn man für den eigenen Unterhalt aufkommen muß und keine körperliche Arbeit verrichtet? Auch ich würde gern auf dem Land leben … Deshalb sparen wir. Ich sagte schon, daß Henry
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