Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
Chariot! Ich war hier, Kommissar … Wenn der Mörder diesen Weg benutzt hätte, hätte ich ihn sehen müssen.«
»Haben Sie die Schüsse gehört?«
»Die hat jeder gehört! Ich dachte erst, im Park da drüben schieße jemand auf Hasen, aber ich hab dann doch ein paar Schritte in die Richtung gemacht …«
»Und gesehen haben Sie niemanden?«
»Keine Menschenseele.«
»Und auch nicht hinter die Bäume geschaut, das ist klar.«
Nur um keine Möglichkeit außer acht zu lassen, machte Maigret eilig die Runde durch die Allee. Dann steuerte er auf das Hauptportal des Schlößchens zu. Auf einem Seitenpfad erblickte er den Gärtner, der einen mit Kies beladenen Karren vor sich herschob.
»Ist der Herr nicht da?« rief Maigret ihm zu.
»Er wird beim Notar sein … Um diese Zeit spielen die Herren immer Karten …«
»Hast du gesehen, wie er das Haus verließ?«
»Mit eigenen Augen, und zwar vor mindestens eineinhalb Stunden.«
»Bist du im Park irgend jemandem begegnet?«
»Nein. Wieso?«
»Wo warst du vor zehn Minuten?«
»Am Fluß. Hab dort Kies geladen.«
Maigret schaute ihm in die Augen. Der Mann machte einen ehrlichen Eindruck. Im übrigen war er zu dumm, um Lügen zu erfinden.
Der Kommissar beachtete ihn nicht weiter. Als nächstes untersuchte er das Faß an der Parkmauer, fand aber nichts, was darauf deutete, daß der unbekannte Schütze es als Trittleiter benutzt hatte.
Auch die Untersuchung des verrosteten Tors ergab nichts Neues. Er hatte es an diesem Morgen eigenhändig ins Schloß gedrückt, und seither schien es nicht mehr geöffnet worden zu sein.
»Jemand hat aber geschossen, sogar zweimal hintereinander.«
Die Gäste auf der Hotelterrasse hatten sich einigermaßen beruhigt wieder hingesetzt und ergingen sich nun in lauten Kommentaren über den aufregenden Zwischenfall.
Monsieur Tardivon lief dem Kommissar entgegen.
»Gut, daß Sie da sind! Soeben habe ich erfahren, der Doktor sei beim Notar, Monsieur Petit. Soll ich ihn holen lassen?«
»Wo wohnt der Notar?«
»Am Hauptplatz, neben dem ›Commerce‹.«
»Wem gehört dieses Fahrrad hier?«
»Keine Ahnung, aber nehmen Sie’s ruhig. Sie wollen selber hinfahren?«
Maigret schwang sich auf das Rad. Es war zu klein für ihn, und die Sattelfedern ächzten unter seinem Gewicht. Fünf Minuten später ließ er in einem großen, blitzsauberen und angenehm kühl aussehenden Haus ein melodisches Glockenspiel ertönen.
Eine alte Haushälterin öffnete das Guckfenster. Sie trug eine blaukarierte Schürze.
»Ist der Arzt hier?«
»Wer schickt nach ihm?«
Ein Fenster wurde aufgestoßen. Ein joviales Männergesicht beugte sich heraus.
»Ist es die Wächtersfrau? Ich komme sofort …« Der Mann hielt Bridgekarten in der Hand.
»Jemand ist verletzt, Doktor. Man braucht Sie dringend im ›Hôtel de la Loire‹!«
»Doch nicht wieder ein Mord?«
Hinter ihm hatten sich drei Männer von dem Tisch erhoben, auf dem Kristallgläser funkelten. Maigret erkannte Saint-Hilaire.
»Ein versuchter Mord. Beeilen Sie sich bitte!«
»Tot?«
»Nein. Nehmen Sie genügend Verbandstoff mit …«
Er ließ Saint-Hilaire nicht aus den Augen. Der Schloßherr schien ehrlich entsetzt zu sein.
»Eine Frage, Messieurs …«
»Augenblick«, unterbrach ihn der Notar. »Warum hat man Sie nicht hereingeführt?«
Darauf bequemte sich die Alte endlich, die Haustür zu öffnen. Der Kommissar schritt durch den Flur und betrat den Salon. Dort roch es nach teuren Zigarren und altem Cognac.
»Was ist denn passiert?« erkundigte sich der Hausherr, ein sehr gepflegter alter Herr mit seidig schimmerndem Haar und rosiger Babyhaut.
Maigret überhörte die Frage.
»Ich möchte wissen, Messieurs, seit wann Sie hier spielen.«
Der Notar warf einen Blick auf die Wanduhr.
»Seit einer guten Stunde.«
»Und keiner hat seither den Raum verlassen?«
Überrascht sahen sich die vier an.
»Natürlich nicht! Wir sind ja nur vier. Genau die richtige Zahl für Bridge …«
»Sind Sie ganz sicher ?«
Saint-Hilaires Gesicht wurde dunkelrot.
»Wer ist das Opfer?« fragte er heiser.
»Ein Beamter vom Erkennungsdienst, der in Emile Gallets Zimmer arbeitete. Er beschäftigte sich gerade mit einem gewissen Jacob, als …«
»Jacob?« wiederholte der Notar.
»Kennen Sie eine Person dieses Namens?«
»Jacob? Nie gehört. Es klingt jüdisch …«
»Ich muß Sie um einen Gefallen bitten, Monsieur de Saint-Hilaire. Ich möchte, daß Sie alle Hebel in Bewegung setzen, um den Schlüssel zum
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