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Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Titel: Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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verblassen.
    An den genauen Augenblick, da die beiden Schüsse fielen, konnte er sich später nicht erinnern. Sie vermochten ihn nur halbwegs aus dem Schlaf zu schrecken, da sie sogleich in einen Traum übergingen, der alles erklärte:
    … Er saß auf der Hotelterrasse. Tiburce de Saint-Hilaire ging in einem flaschengrünen Anzug, gefolgt von einem Dutzend Hunden mit langen Ohren, an ihm vorbei. »Sie wollten wissen, ob es Wild in der Gegend gibt«, sagte er. Er schulterte sein Gewehr, gab aufs Geratewohl einen Schuß ab, und eine Wolke von Rebhühnern wirbelte wie welke Blätter zu Boden.
    »Kommissar! Schnell!«
    Er fuhr auf. Vor ihm stand die Kellnerin.
    »Im Zimmer ist etwas passiert … Jemand hat geschossen …«
    Der Kommissar spürte beschämt die bleierne Schwere in seinen Gliedern, als er mit den andern Gästen ins Hotel stürmte. Er war bei weitem nicht der erste, der Gallets Zimmer erreichte. Moers stand am Tisch und hielt beide Hände vor das Gesicht.
    »Alle hinaus!« befahl Maigret.
    »Soll ich den Arzt holen?« rief Monsieur Tardivon. »Er blutet! Sehen Sie?«
    »Tun Sie das!«
    Als die Tür ins Schloß fiel, trat er auf den jungen Beamten zu. Er empfand Gewissensbisse.
    »Was ist geschehen, Kleiner?«
    Daß er blutete, konnte weiß Gott jedermann sehen! Überall sah man Blut. Es tropfte von Moers’ Händen auf seine Schultern, auf die Glasscheibchen, auf den Fußboden.
    »Es ist nicht schlimm, Kommissar … Nur am Ohr … Sehen Sie?«
    Er ließ das linke Ohrläppchen los, und sogleich spritzte Blut heraus. Moers war leichenblaß, versuchte aber trotzdem zu lächeln und das krampfhafte Zucken seiner Kiefer zu unterdrücken.
    Die Rollgardine war immer noch heruntergelassen, und das gedämpfte Licht verbreitete einen goldenen Schimmer.
    »Es sieht schlimmer aus, als es ist, nicht wahr? Ohren bluten immer gleich so stark …«
    »Beruhigen Sie sich! Erst mal tüchtig durchatmen!«
    Der Flame konnte kaum sprechen, so sehr klapperten ihm die Zähne.
    »Ich sollte mich nicht so gehenlassen, ich weiß … Aber ich bin solche Dinge nicht gewohnt! Ich war aufgestanden, wollte ein neues Plättchen aus der Tasche nehmen …«
    Er betupfte das Ohr mit dem Taschentuch; mit der anderen Hand hielt er sich am Tischrand fest.
    »Ich stand dort, sehen Sie? Plötzlich hörte ich einen Knall. Ich schwöre Ihnen, ich hab gespürt, wie eine Kugel vorbeisauste, so nahe vor meinen Augen, daß ich dachte, meine Brillengläser seien weg … Ich warf mich nach hinten, und im gleichen Moment, also unmittelbar nach dem ersten Schuß, fiel ein zweiter. Ich glaubte, ich sterbe. In meinem Kopf brauste es, als hätte mein Hirn zu sieden begonnen …«
    Er lächelte jetzt schon etwas ungezwungener.
    »Wie Sie sehen, ist nichts passiert. Ein Stück Ohr ist weg, das ist alles … Ich hätte gleich ans Fenster laufen sollen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich war sicher, daß diese Schießerei weitergehen würde. Bis heute hab ich nie gewußt, was das ist, ein Schuß.«
    Er mußte sich setzen, da seine Beine unter der Nachwirkung des Schocks und der ausgestandenen Angst zu zittern begonnen hatten.
    »Machen Sie sich keine Sorgen meinetwegen. Wichtig ist, daß Sie den andern finden …«
    Auf seiner Stirn standen plötzlich Schweißtropfen. Maigret sah, daß er einer Ohnmacht nahe war, und lief zur Tür.
    »Patron! … Rasch! Kümmern Sie sich um den Mann! Wo bleibt der Arzt?«
    »Er ist nicht zu Hause. Aber hier ist ein Gast, ein Krankenpfleger vom Hôtel Dieu …«
    Maigret zog die Gardine hoch, steckte die Pfeife in den Mund und kletterte über die Fensterbrüstung. Der Brennnesselweg lag verlassen da, halb im Schatten, halb von Licht und Wärme überflutet. Das Portal im Hintergrund war geschlossen.
    Auf der weißen Mauer war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Und nach Fußspuren zu suchen wäre sinnlos gewesen, denn in diesem ausgedörrten Unkraut blieben Abdrücke so wenig haften wie auf kahlem Fels.
    Er ging zur Uferstraße, wo er etwa zwanzig Personen ratlos beisammenstehen sah.
    »War jemand von Ihnen auf der Terrasse, als geschossen wurde?«
    Mehrere Stimmen riefen: »Ich!« Erwartungsvoll lösten sich einige von der Gruppe.
    »Haben Sie zufällig jemand diesen Seitenweg betreten sehen?«
    »Nein. Da ist seit mindestens einer Stunde keiner durchgekommen … Ich war die ganze Zeit hier und hab mich nicht von der Stelle gerührt«, erklärte ein ausgemergelter kleiner Mann in buntkariertem Pullover. »Geh zu deiner Mutter,

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