Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
alten Parktor zu finden. Wenn Sie Hilfe brauchen, kann ich Ihnen ein paar Beamte schicken, die auf Haussuchungen spezialisiert sind.«
Saint-Hilaire griff nach seinem Cognacglas und leerte es in einem Zug. Die Bewegung war Maigret nicht entgangen.
»Entschuldigen Sie die Störung, Messieurs …«
»Sie trinken doch noch ein Gläschen mit uns, Kommissar?«
»Ein andermal, danke.«
Er setzte sich wieder aufs Rad, fuhr bis zur Hängebrücke zurück, schwenkte links ab und hielt bald darauf vor einem ziemlich heruntergekommenen Haus, dessen Tür die kaum leserliche Aufschrift ›Pension Germain‹ trug.
Ein verwahrloster Junge lehnte am Türrahmen, und auf der Schwelle knabberte ein Hund an einem Knochen, den er im Straßenstaub aufgestöbert haben mußte.
»Ist Mademoiselle Boursang zu Hause?«
Eine Frau tauchte mit einem kleinen Kind auf dem Arm aus dem Hintergrund auf.
»Sie ist wie jeden Nachmittag spazierengegangen. Aber Sie finden sie bestimmt auf dem Hügel beim alten Schloß. Das ist ihr Lieblingsplatz, und sie hat immer ein Buch mit.«
»Führt dieser Weg dort hinauf?«
»Fahren Sie noch bis zum letzten Haus, dann rechts um die Ecke …«
Auf halber Höhe mußte Maigret vom Rad steigen und es schieben.
Er war gereizter, als er es sich eingestehen wollte – vielleicht weil er wieder einmal das Gefühl hatte, daß er sich auf der falschen Fährte befand.
»Daß Saint-Hilaire nicht geschossen hat, steht fest. Und doch …«
Der Weg führte durch eine Art Grünanlage. Links vom Weg saß ein etwa zwölfjähriges Mädchen neben drei angepflockten Ziegen.
Maigret erblickte Eléonore unmittelbar nach der nächsten steilen Kurve. Sie saß lesend auf einer Bank, etwa hundert Meter weiter oben.
Er machte kehrt.
»Kennst du die Dame, die da oben sitzt?« rief er der kleinen Ziegenhirtin zu.
»Ja, Monsieur.«
»Siehst du sie oft dort sitzen?«
»Ja, Monsieur.«
»Jeden Tag?«
»Nicht wenn ich in der Schule bin.«
»Und heute? Wie lange bist du schon hier?«
»Oh, schon lange, Monsieur! Seit dem Mittagessen.«
»Wo wohnst du?«
»In dem Haus dort unten …«
Es stand einen halben Kilometer tiefer in einer Mulde, ein flaches Gebäude, halb Bauernhaus, halb Hütte.
»Saß die Dame schon oben?«
»Nein, Monsieur!«
»Wann ist sie gekommen?«
»Das weiß ich nicht, Monsieur. Aber sie ist schon mindestens zwei Stunden da.«
»Und hat sich nie von der Stelle gerührt?«
»Nein, Monsieur.«
»Sie ist nicht etwa hier herumspaziert?«
»Nein, Monsieur.«
»Hat sie ein Fahrrad?«
»Nein, Monsieur.«
Maigret fischte ein Zweifrancstück aus der Tasche und drückte es der Kleinen in die Hand. Sie schloß die Finger um die Münze, ohne sie anzusehen, und starrte ihm reglos nach, als er wieder auf das Rad stieg und ins Städtchen zurückfuhr. Vor dem Postamt stieg er ab. Das Telegramm, das er nach Paris aufgab, lautete:
Muß dringend wissen, wo Henry Gallet Samstag 15 Uhr war. Maigret, Sancerre.
»Jetzt machen Sie aber Schluß, Kleiner!«
»Sie sagten doch, es sei eilig, Kommissar. Außerdem spüre ich überhaupt nichts mehr.«
Ein braver Junge, dieser Moers! Der Arzt hatte ihm einen so komplizierten und dicken Verband angelegt, daß sein Kopf aussah, als hätte er mindestens sechs Schüsse abbekommen. Und sein Kneifer mit den funkelnden Gläsern nahm sich zwischen all dem weißen Zeug unbeschreiblich komisch aus.
Da Moers nicht ernstlich verwundet war, hatte Maigret sich den ganzen Nachmittag kaum mehr mit ihm beschäftigt. Jetzt, um sieben Uhr abends, traute er seinen Augen nicht, als er ihn immer noch vor seinen Glasscheibchen sitzen sah.
»Ich kann beim besten Willen nichts mehr finden, was mit diesem Jacob zusammenhängt. Das hier sind die Reste eines zweiten Briefes, aber der ist mit ›Clément‹ unterzeichnet. An wen er adressiert ist, läßt sich nicht feststellen, aber es scheint sich um ein Geschenk für irgendeinen Fürsten im Exil zu handeln. Zweimal kommt das Wort Obolus und einmal das Wort Treue vor …«
»Ziemlich uninteressant.«
Ein Bettelbrief natürlich! Von Gallet alias Clément unterzeichnet. Über Gallets Schwindlerlaufbahn war Maigret genau im Bild, seitdem er das rosa Aktenbündel studiert und mit gewissen Schloßbesitzern in der Gegend des Berry und des Cher telefoniert hatte.
Drei, vier Jahre nach seiner Heirat und ein Jahr oder zwei nach dem Tod seines Schwiegervaters mußte Emile Gallet eines schönen Tages auf die Idee verfallen sein, aus den alten
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