Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
es ihm, einen Kollegen in den Fall einzubeziehen.
»Jacob?«
»Einen Jacob gibt es hier nicht. Aber fragen Sie nebenan. Da wohnen Juden …«
Er hatte mindestens hundert Pförtnerlogen betreten oder wenigstens den Kopf durch die Guckfenster gesteckt, um die Concierges zu befragen. Jetzt stand er vor einer dicken Frau mit flachsblondem Haar, die mißtrauisch zu ihm aufsah.
»Was wollen Sie von Monsieur Jacob? Sie sind Polizeibeamter, nicht wahr?«
»Mobile Brigade, ja. Ist er zu Hause?«
»Wieso soll er um diese Zeit zu Hause sein?«
»Wo finde ich ihn?«
»An seinem Standplatz natürlich. Ecke Rue Clignancourt und Boulevard Rochechouart. Sie machen ihm doch hoffentlich keine Scherereien? … So ein armer Alter, der in seinem Leben nie etwas ausgefressen hat. Geht es etwa um seine Bewilligung?«
»Bekommt er häufig Post?«
Die Concierge runzelte die Brauen.
»Ach so, darum geht’s!« sagte sie. »Hm, ich hab doch gleich gewußt, daß da etwas nicht stimmt. Sie wissen ja sicher schon Bescheid, da brauche ich Ihnen nicht erst zu erzählen, daß er alle zwei oder drei Monate einen Brief bekam … immer nur diesen einen!«
»Als Einschreiben?«
»Nein. Es war übrigens eher ein Päckchen als ein Brief.«
»Mit Banknoten drin, wie?«
»Keine Ahnung«, erwiderte sie schroff.
»Aber ja, Sie wissen es ganz genau. Sie haben die Umschläge befühlt und sich gleich gedacht, daß es Banknoten sein könnten.«
»Nun, und wenn schon! Geklaut hat er sie jedenfalls nicht.«
»Wo liegt sein Zimmer?«
»Seine Mansarde, meinen Sie? Ganz oben. Für Monsieur Jacob ist das keine Kleinigkeit, wissen Sie! Jeden Abend alle diese Treppen hochsteigen, mit seinen Krücken …«
»Hat schon mal jemand nach ihm gefragt?«
»Nur ein einziges Mal, vor etwa drei Jahren … Ein Herr mit einem Spitzbart, der aussah wie ein Pfarrer in Zivil … Ich hab ihm das gleiche erzählt wie Ihnen …«
»Kamen damals schon Briefe für Monsieur Jacob?«
»Einer war eben gekommen.«
»Trug der Mann ein Jackett?«
»Er war ganz schwarz gekleidet, wie ein Pfarrer.«
»Wissen Sie, ob jemand Monsieur Jacob gelegentlich besucht?«
»Nur seine Tochter. Die ist Zimmermädchen in einer Pension an der Rue Lepic und erwartet ein Kind …«
»Was ist er von Beruf?«
»Das wissen Sie nicht? Und so was will Polizist sein? Machen Sie sich vielleicht lustig über mich? … Monsieur Jacob! Der älteste Zeitungsverkäufer im Viertel, so berühmt wie ehemals Methusalem …«
An der Ecke Rue Clignancourt-Boulevard Rochechouart blieb Maigret stehen. Die Bar vor ihm hieß ›Au Couchant‹. Am Ende der Terrasse verkaufte ein Straßenverkäufer gebrannte Mandeln und Erdnüsse; im Winter verkaufte er wahrscheinlich heiße Kastanien.
Am andern Ende, wo die Rue Clignancourt begann, hockte ein altes Männlein auf einem Schemel und rief unentwegt mit einer heiseren Stimme, die im Straßenlärm unterging:
»Intran … Liberté … Presse … Paris-Soir …«
Hinter dem Alten lehnte ein Paar Krücken an der Mauer. Einer seiner Füße steckte in einem ledernen Schnürschuh, der andere in einem ausgetretenen Pantoffel.
Beim Anblick des Zeitungsverkäufers ging Maigret ein Licht auf. Monsieur Jacob war kein Name. Es war ein Spitzname. Der Alte hatte einen langen, gescheitelten Bart mit spitzen Enden und dazu eine Hakennase, wie man sie auf den Tonpfeifen sieht, die im Pariser Volksmund »Jacob« heißen. Der Kommissar rief sich die paar Wörter ins Gedächtnis, die Moers entziffert hatte: zwanzigtausend … Barzahlung … Montag …
Unvermittelt trat er auf den verkrüppelten Alten zu.
»Haben Sie die letzte Sendung schon bekommen?« fragte er.
Monsieur Jacob hob den Kopf, blinzelte mit seinen rötlichen Lidern.
»Wer sind Sie?« sagte er nach einer Weile, während er einem Käufer L’Intransigeant reichte und in einem Holznapf nach Kleingeld suchte.
»Kriminalpolizei! Wir werden uns jetzt ein bißchen unterhalten, ja? Ganz ruhig, sonst muß ich Sie nämlich mitnehmen. Die Sache ist ernst …«
»Nun?«
»Besitzen Sie eine Schreibmaschine?«
Der Alte kicherte, spuckte einen zerkauten Zigarettenstummel aus, von denen er eine ganze Sammlung vor sich liegen hatte, und lispelte:
»Mir brauchen Sie nichts weiszumachen. Sie wissen ganz genau, daß ich es nicht bin … Trotzdem, ich hätte mich wohl besser herausgehalten … Für das bißchen Geld, das es mir einbringt.«
»Wieviel?«
»Fünf Franc gab sie mir für jeden Brief … Sie sagen, da ist
Weitere Kostenlose Bücher