Maigret und die Affäre Saint Fiacre
du es auf dem Betstuhl gefunden?«
Schweigen. Seine Backen und sein Nasenrücken waren mit Sommersprossen gesprenkelt. Seine dicken Li p pen mühten sich um Ausdruckslosigkeit.
»Verstehst du nicht, daß ich dein Freund bin?«
»Doch … Sie haben Mama zwanzig Franc gegeben …«
»Na, also?«
Jetzt konnte der Kleine sich rächen.
»Auf dem Heimweg sagte Mama, daß die Ohrfeigen nur Mache waren, und sie hat mir fünfzig Centime g e schenkt …«
Hoppla! Ein schlaues Bürschchen! Was gingen wohl für Gedanken durch seinen Kopf, der für den mageren Körper zu groß erschien?
»Und der Mesner?«
»Der hat mir nichts gesagt …«
»Wer hat das Meßbuch vom Betstuhl weggenommen?«
»Weiß ich nicht.«
»Und du, wo hast du es gefunden?«
»Unter meinem Chorkleid, in der Sakristei … Ich wollte ins Pfarrhaus essen gehen. Ich hatte mein Taschentuch vergessen … Als ich das Chorkleid wegschob, fühlte ich darunter etwas Hartes …«
»War der Mesner da?«
»Er war in der Kirche beim Kerzenlöschen … Wissen Sie, die mit den roten Buchstaben sind ganz teuer …«
Mit anderen Worten, jemand hatte das Meßbuch vom Betstuhl genommen, es vorläufig in der Sakristei versteckt, unter dem Gewand des Chorknaben, offensichtlich in der Absicht, es dort später wieder zu holen.
»Hast du es geöffnet?«
»Dazu hatte ich keine Zeit … Ich wollte mein weiches Ei … Denn am Sonntag …«
»Ich weiß …«
Und Ernest grübelte darüber nach, wie dieser Mann aus der Stadt wissen konnte, daß es sonntags ein weiches Ei im Pfarrhaus gab.
»Du kannst gehen …«
»Stimmt es, daß ich …?«
»Daß du morgen das Meßbuch bekommst? … Ja! Auf Wiedersehen, mein Junge …«
Maigret streckte ihm die Hand hin, und der Bub zögerte kurz, ehe er die seine gab.
»Ich weiß, daß es bloß Schwindel ist!« meinte er trotzdem beim Weggehen.
Ein Verbrechen in drei Abläufen: Jemand hatte die Zeitungsmeldung gesetzt oder setzen lassen, auf einer Linotype, wie man sie in einer Zeitungssetzerei oder e i ner großen Druckerei findet.
Jemand hatte den Ausschnitt in das Meßbuch geschmuggelt, zwischen ausgewählten Seiten.
Und jemand hatte nachher das Meßbuch weggenommen, einstweilen unter dem Chorkleid versteckt, in der Sakristei.
Vielleicht war das alles das Werk ein und desselben Menschen?
Vielleicht gab es für jeden Ablauf einen anderen Urheber? Vielleicht hatte ein Einzelner zwei der Manöver durchgeführt?
Als er an der Kirche vorbeiging, sah Maigret den Pfarrer heraustreten und auf sich zukommen. Er erwartete ihn unter den Pappeln, nahe der Apfelsinen- und Sch o koladen-Händlerin.
»Ich gehe zum Schloß …«, erklärte jener, sich zu Maigret gesellend. »Zum ersten Mal zelebriere ich die Messe, ohne zu wissen, was ich tue … Der Gedanke, daß ein Verbrechen …«
»Es war ein Verbrechen!« stellte Maigret trocken fest.
Sie schritten schweigend aus. Stumm reichte der Kommissar den Zeitungsausschnitt seinem Weggefährten, der ihn las, zurückgab.
Und sie legten noch hundert Meter zurück, ohne ein Wort zu wechseln.
»Zügellosigkeit zeugt Zügellosigkeit … Aber sie war ein geplagter Mensch …«
Jeder von ihnen mußte seinen Hut festhalten, weil der Wind zunehmend heftig blies.
»Ich habe nicht genügend Kraft aufgebracht …«, fügte der Priester mit moroser Stimme hinzu.
»Sie?«
»Jeden Tag kam sie wieder … Sie war bereit, auf Go t tes Pfade zurückzukehren … Aber täglich war dort dr ü ben …« Es lag Bitterkeit in seiner Betonung.
»Ich wollte nicht hingehen! Und doch wäre es meine Pflicht gewesen …«
Beinahe hätten sie halt gemacht, weil zwei Männer die Schloßallee herunterkamen und sie ihnen begegnen mußten. Sie erkannten den Dorfarzt und neben ihm den hageren, langen Jean Métayer, noch immer eifrig redend. Das gelbe Auto stand im Hof. Offenbar traute sich Métayer nicht ins Schloß zurück, solange Graf Saint-Fiacre dort war.
Zwielicht über dem Dorf. Eine zwielichtige Situation. Ungewisses Kommen und Gehen.
»Kommen Sie!« sagte Maigret. Und der Arzt mußte dasselbe zum Sekretär gesagt haben, den er weiterdrängte, bis er hervorsprudeln konnte:
»Guten Tag, Herr Pfarrer. Wissen Sie, ich darf Sie b e ruhigen! … Ich mag zwar ein Ketzer sein, aber ich kann mir vorstellen, wie Ihnen beim Gedanken zumute ist, daß in Ihrer Kirche ein Verbrechen passiert sein könnte … Na, nichts dergleichen … Die ärztliche Diagnose ist eindeutig … unsere Gräfin starb an Herzstillstand
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