Maigret und die Affäre Saint Fiacre
hinaufzusteigen, und dort erwartete ihn eine Überraschung. Während unten die Leute wie ziellos herumliefen, war oben, im Zimmer der Gräfin Saint-Fiacre, Ordnung geschaffen worden.
Der Arzt, vom Zimmermädchen unterstützt, hatte die Leichenwäsche besorgt. Von der zweideutigen, unsauberen Atmosphäre des frühen Morgens war nichts mehr zu spüren. Es war nicht mehr derselbe Körper. Die Tote lag, in ein weißes Nachthemd gekleidet, auf ihrem Himmelbett, in einer friedvollen und würdigen Stellung, die Hände über einem Kruzifix gefaltet.
Bereits waren brennende Kerzen da, Weihwasser, ein Buchsbaumzweig in einer Schale.
Bouchardon blickte Maigret entgegen, der hereinkam, und sein Blick schien zu sagen:
›Na! Was halten Sie davon? Ist das nicht saubere Arbeit?‹
Der Priester betete, die Lippen lautlos bewegend. Er blieb bei der Toten zurück, während die beiden anderen weggingen.
Die Gruppen auf dem Platz vor der Kirche hatten sich gelichtet. Hinter den Vorhängen der Häuser sah man Familien beim Mittagessen sitzen.
Jean Métayer hatte sich in der Ecke am Fenster niedergelassen und aß mechanisch, während er auf die leere Straße hinausschaute. Maigret nahm am anderen Ende der Gaststube Platz. Zwischen ihnen saß eine im Lieferwagen eingetroffene Familie aus einem Nachbardorf, die mitgebrachten Proviant verzehrte und der Marie Tatin Getränke servierte.
Die arme Tatin war ganz aufgelöst. Sie begriff nicht mehr, was um sie her vor sich ging. Gewöhnlich beherbergte sie dann und wann in einem Mansardenzimmer einen Handwerker, der im Schloß oder auf einem Hof Reparaturen auszuführen hatte. Und jetzt war da außer Maigret ein weiterer Pensionär: der Sekretär der Gräfin.
Sie wagte niemanden zu fragen. Während des ganzen Morgens hatte sie schreckliche Dinge vernommen, die ihre Gäste erzählten. Sie hatte unter anderem von Polizei reden hören:
»Ich fürchte, das Huhn ist zu lang im Ofen gewesen …«, sagte sie, als sie Maigret bediente.
Und der Tonfall war derselbe, wie wenn sie etwa gesagt hätte: ›Ich fürchte überhaupt alles! Ich weiß nicht mehr, was los ist! Heilige Jungfrau, steh mir bei!‹
Der Kommissar betrachtete sie gerührt. Sie hatte schon immer diesen verängstigten und duldenden Ausdruck gehabt.
»Erinnerst du dich noch, Marie, an …«
Sie riß die Augen auf und machte bereits eine abwehrende Geste.
»… an die Sache mit den Fröschen?«
»Aber … wer …«
»Deine Mutter hatte dich zum Pilzesuchen ausgeschickt, zur Wiese hinter dem Notre-Dame-Teich … Dort in der Nähe spielten drei Buben … Und als du g e rade mal nicht aufgepaßt hast, steckten sie dir statt der Pilze Frösche in den Korb … Und auf dem ganzen Heimweg hast du dich geängstigt, weil es da drin za p pelte.«
Seit einem Weilchen musterte sie ihn nun prüfend, um dann endlich zu stammeln:
»Maigret?«
»Achtung! Monsieur Jean ist mit seinem Huhn fertig und wartet auf den nächsten Gang.«
Und schon war Marie Tatin verändert, noch aufgeregter zwar, aber mit einem Anflug von Zuversicht.
Wie seltsam das Leben doch war! Jahre und Jahre ohne das geringste Ereignis, ohne irgend etwas, das die Eintönigkeit des Alltags durchbrochen hätte. Und dann plötzlich unbegreifliche Vorkommnisse, Dramen, Dinge, wie sie nicht einmal in den Zeitungen vo r kommen!
Während sie Jean Métayer und die Bauern bediente, warf sie Maigret manchmal einen beinahe verschwörerischen Blick zu. Als er fertiggegessen hatte, schlug sie ihm schüchtern vor:
»Sie nehmen doch sicher ein Gläschen Branntwein?«
»Früher hast du mich geduzt, Marie!«
Sie lachte auf. Nein, jetzt traute sie nicht mehr!
»Gegessen hast du überhaupt noch nicht, du!«
»Oh, doch! Ich esse dauernd, in der Küche … Hier einen Bissen, da einen Bissen …«
Ein Motorrad fuhr auf der Straße vorbei. Flüchtig war ein junger Mann wahrzunehmen, besser gekleidet als die meisten Einwohner von Saint-Fiacre.
»Wer ist das?«
»Haben Sie ihn heute früh nicht gesehen? Emile Gautier, der Sohn des Verwalters.«
»Wo fährt er hin?«
»Zweifellos nach Moulins! Er ist beinah ein Städter. Er arbeitet in einer Bank …«
Man sah Leute aus ihren Häusern kommen, auf der Straße spazieren oder zum Friedhof gehen.
Seltsam, Maigret war schläfrig. Er fühlte sich erschöpft, wie nach einer außerordentlichen Anstrengung. Und es war weder weil er um halb sechs Uhr aufgesta n den war noch weil er sich erkältet hatte.
Es war vielmehr die ganze
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