Maigret und die Affäre Saint Fiacre
weiche Stoffkragen, doch die Krawatte war noch fest auf einen Halter geknüpft.
»Kennen Sie mich?«
»Nein. Ich nehme an, daß Sie der Polizeibeamte sind …«
»Und ich hätte gern ein paar Auskünfte über den Stand des Saint-Fiacre-Kontos.«
»Ohne weiteres! Dieses Kontokorrent wird wie die übrigen von mir betreut.«
Er war höflich, wohlerzogen. In der Schule mußte er der Liebling aller Lehrer gewesen sein.
»Geben Sie mir das Konto Saint-Fiacre!« wies er eine hinter ihm sitzende Angestellte an. Dann ließ er den Blick über ein großes gelbes Kontenblatt wandern.
»Wünschen Sie eine Übersicht, den Saldo oder allgemeine Referenzen?«
Wenigstens war er bestimmt.
»Sind die Referenzen gut?«
»Kommen Sie bitte dort hinüber … Man könnte uns hören …«
Sie begaben sich in den hinteren Teil des Raumes, nach wie vor durch die Eichenfläche getrennt.
»Mein Vater muß Ihnen gesagt haben, daß die Gräfin sehr nachlässig war … Alle Augenblicke mußte ich Schecks abfangen, für die die Deckung fehlte … Woh l gemerkt, das war ihr gar nicht bewußt … Sie schrieb Schecks aus, ohne sich um den Kontostand zu kümmern … Und wenn ich dann anrief, um sie darüber zu unte r richten, verlor sie den Kopf … Noch heute morgen sind drei Schecks präsentiert worden, und ich mußte sie z u rückgehen lassen … Ich habe Anweisung, nichts ausz u zahlen, bevor …«
»Ist der Ruin vollständig?«
»Genau genommen nicht … Zwar sind vier der fünf Pachthöfe verkauft … Der fünfte ist hypothekarisch schwer belastet, ebenso das Schloß … Die Gräfin besaß ein Mietshaus in Paris, das ihr zumindest eine kleine Rente sicherte … Aber wenn sie unvermittelt vierzig- oder fünfzigtausend Franc auf das Konto ihres Sohns überwies, brachte das alles aus dem Gleichgewicht … Ich habe immer versucht, nach Möglichkeit zu helfen … Ich ließ die Effekten zwei- und dreimal wieder präsenti e ren … Mein Vater …«
»Er hat Geld vorgeschossen, ich weiß.«
»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Augenblicklich weist das Konto ein Guthaben von genau siebenhundertfünfundsiebzig Franc aus … Dabei sind die Grundsteuern vom vergangenen Jahr noch unbezahlt, und der Gerichtsvollzieher hat letzte Woche den ersten Za h lungsbefehl ausgestellt …«
»Ist Jean Métayer im Bild?«
»Völlig! Sogar mehr als im Bild.«
»Was heißt das?«
»Ach, nichts.«
»Sie meinen, daß er kein Naivling ist?«
Doch Emile Gautier wich diskret einer Antwort aus.
»Ist das alles, was Sie wissen möchten?«
»Gibt es andere Einwohner von Saint-Fiacre, die ihr Konto bei dieser Filiale haben?«
»Nein!«
»Ist heute von dort niemand dagewesen, um irgendein Bankgeschäft zu erledigen? Einen Scheck einzulösen, beispielsweise?«
»Niemand.«
»Waren Sie ständig am Schalter?«
»Ich habe ihn nicht verlassen.«
Er zeigte keine Unruhe. Er blieb der tüchtige Angestellte, der einer Amtsperson gehörig Auskunft gibt.
»Möchten Sie unseren Direktor sehen? Freilich wird er Ihnen auch nicht mehr sagen können als ich …«
Die Lichter gingen an. Auf der Hauptstraße herrschte ein beinahe so lebhaftes Treiben wie in einer großen Stadt, und vor den Cafés stand Auto an Auto.
Ein Umzug zog vorbei: zwei Kamele und ein junger Elefant, behängt mit Werbeplakaten für einen auf der Place de la Victoire gastierenden Zirkus.
In einem Lebensmittelgeschäft erspähte Maigret die Mutter des noch immer an ihrer Hand hängenden kleinen Rotschopfs beim Einkauf von Konserven.
Etwas weiter stieß er beinahe mit Métayer und seinem Anwalt zusammen, die geschäftig daherkamen und di s kutierten. Der Anwalt sagte:
»… sie sind gezwungen, es zu sperren …«
Sie sahen den Kommissar nicht und steuerten auf das Comptoir d’Escompte zu.
Zwangsläufig begegnet man sich immer wieder während eines Nachmittags in einer Kleinstadt, wo sich die ganze Aktivität auf eine Straße von fünfhundert Metern Länge konzentriert.
Maigret suchte die Druckerei des Journal de Moulins auf. Die Büros gingen auf die Straße: eine moderne Schaufensterfront, aus Beton, mit reichhaltigem Aushang von Pressefotos und mit Blaustift auf lange Papierstreifen geschriebenen neuesten Meldungen.
Mandschurei. Die Agence Havas teilt mit, daß …
Doch um zur Druckerei zu gelangen, mußte man durch eine dunkle Einfahrt gehen. Der Lärm der Rotationspresse wies einem den Weg. In einer trostlosen Werkhalle arbeiteten Männer in Kitteln an hohen Ma r mortischen. In einem
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