Maigret und die Affäre Saint Fiacre
Paris, nicht wahr? … Dreimal acht macht vierundzwanzig …«
Der Graf erblickte Maigret, kam ungezwungen auf ihn zu, setzte sich neben ihn.
»Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie nach Moulins wollten. Ich hätte Sie in meinem Wagen mitgenommen … Allerdings ist er offen, und bei diesem Wetter …«
»Haben Sie mit Marie Vassilew telefoniert?«
»Nein. Ich sehe nicht, warum ich Ihnen die Wahrheit verheimlichen soll … Garçon, ein Bier auch für mich … Oder nein! Eher etwas Heißes … Einen Grog … Ich habe einen gewissen Monsieur Wolf angerufen … Wenn Sie ihn nicht kennen, dürfte er anderen am Quai des Orfèvres bekannt sein … Ein Wucherer, sozusagen … Ich habe gelegentlich seine Dienste in Anspruch g e nommen … Und ich versuchte gerade …«
Maigret betrachtete ihn mit Interesse.
»Sie haben ihn um Geld gebeten?«
»Egal zu welchem Zins! Er hat übrigens abgelehnt! Schauen Sie mich nicht so an! Heute nachmittag war ich bei der Bank …«
»Wann?«
»Gegen drei Uhr … Der junge Mann, von dem Sie wissen, und sein Anwalt kamen gerade heraus …«
»Wollten Sie Geld abheben?«
»Ich habe es versucht! Glauben Sie bloß nicht, daß ich Ihr Mitleid erregen will! Es gibt Leute, die, sobald es um Geld geht, genierlich werden. Ich nicht … Also: nachdem die vierzigtausend Franc nach Paris spediert sind und Marie Vassilews Fahrkarte bezahlt ist, habe ich noch etwa dreihundert Franc in der Tasche … Ich bin ganz unvorbereitet hierher gekommen … Ich habe nur den Anzug dabei, den ich trage … In Paris schulde ich der Besitzerin meiner Wohnung etliche tausend Franc, so daß sie meine Sachen nicht freigeben wird …«
Während er redete, beobachtete er die Kugeln, wie sie über das grüne Billardtuch rollten. Die Spieler waren junge Leute aus der Stadt, die ab und zu neidvoll auf den elegant gekleideten Grafen schauten.
»So steht’s! Ich hätte wenigstens beim Begräbnis Trauerkleidung tragen wollen. Es gibt aber keinen Schneider in der Gegend, der mir auch nur für zwei Tage Kredit einräumen würde … Bei der Bank sagte man mir, daß das Konto meiner Mutter gesperrt sei, daß außerdem nur ein Guthaben von etwas über siebenhundert Franc besteht … Und wissen Sie, wer mir diese erfreuliche E r öffnung gemacht hat?«
»Der Sohn Ihres Verwalters.«
»Richtig!« Er trank einen Schluck des dampfenden Grogs und schwieg, immer noch zum Billard hinschauend. Das Orchester begann, einen Wiener Walzer zu spielen, den das Geräusch der Kugeln seltsam skandie r te.
Es war heiß. Die Atmosphäre des Cafés war trüb, trotz der elektrischen Beleuchtung. Ein typisches altmodisches Provinz-Café, mit einer einzigen Konzession an den Modernismus, einem Schild, das ankündigte: Coc k tails 6 Franc.
Maigret rauchte bedächtig. Auch er fixierte den von Hängelampen mit grünen Kartonschirmen grell beleuchteten nächsten Billardtisch. Von Zeit zu Zeit ging die Tür auf, und ein paar Sekunden später spürte man unvermittelt einen eisigen Luftzug.
»Setzen wir uns nach dort hinten …«
Das war die Stimme des Anwalts aus Bourges. Er ging am Tisch der zwei Männer vorbei, gefolgt von Jean Métayer, der weiße Wollhandschuhe trug. Beide blic k ten geradeaus. Sie sahen die zwei anderen erst, als sie Platz genommen hatten.
Die zwei Tische standen einander gegenüber. Eine leichte Röte stieg in den Wangen Métayers auf, der mit nicht sehr fester Stimme »Eine Tasse Schokolade!« b e stellte.
Und Saint-Fiacre flüsterte spöttisch:
»Ach, du Süßer!«
Eine Frau ließ sich in fast gleicher Entfernung von den beiden Tischen nieder, lächelte dem Kellner vertra u lich zu, sagte halblaut: »Wie immer!«
Man brachte ihr einen Sherry. Sie puderte sich, zog die Lippen nach. Und zwischen den flatternden Lidern gingen ihre Augen zögernd von einem Tisch zum anderen. War es Maigret, breit und gemütlich, um den sie sich bemühen sollte? War es der elegante Anwalt, der sie bereits lächelnd musterte?
»Nun, ich werde den Trauerzug eben in Grau anführen!« murmelte der Graf de Saint-Fiacre. »Ich kann mir schließlich weder einen schwarzen Anzug vom Maître d’hôtel leihen noch ein Jackett meines verstorbenen V a ters anziehen!«
Außer dem Anwalt, den die Frau interessierte, schaute jedermann auf das nächststehende Billard. Es gab drei Tische. An zweien wurde gespielt. Beifall prasselte, als die drei Musiker ihr Stück beendeten. Daraufhin wurde plötzlich das Klirren von Gläsern und Tassen wieder
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