Maigret und die Affäre Saint Fiacre
vor.
»Pardon! Das ist unseres … Doch wenn Sie mitfahren wollen …«
»Danke, nein …«
Jean Métayer und der Anwalt fuhren als erste weg, in einem ehemaligen Herrschaftswagen, der noch das Wappen des früheren Besitzers trug. Eine Viertelstunde später kam Maigret an die Reihe, und unterwegs, wä h rend er mit dem Chauffeur plauderte, betrachtete er die Gegend.
Die Landschaft war eintönig: Zwei Pappelreihen der Straße entlang; gepflügte Äcker, so weit der Blick reic h te; dann und wann ein Gehölz oder die graugrüne Fl ä che eines Weihers.
Die Häuser waren meist armselige Hütten, verständlicherweise, weil es keine kleinen Grundbesitzer gab, sondern nur große Güter, von denen eines, jenes des Herzogs de T. drei Dörfer umschloß.
Das Gut der Saint-Fiacre war vor den mehrfachen Landverkäufen zweitausend Hektar groß gewesen.
Als Verkehrsmittel diente ein alter Pariser Autobus, den ein Bauer gekauft hatte, und der einmal täglich die Strecke zwischen Moulins und Saint-Fiacre fuhr.
»Ja, noch ländlicher geht’s kaum!« meinte der Taxichauffeur. »Jetzt merkt man das nicht so sehr. Aber mi t ten im Winter …«
Sie erreichten die Hauptstraße von Moulins, als die Uhr der Kirche Saint-Pierre halb drei anzeigte. Maigret ließ sich gegenüber dem Comptoir d’Escompte absetzen und bezahlte die Fahrt. Als er sich umdrehte, um zur Bank hinüberzugehen, kam eine Frau heraus, mit einem kleinen Jungen an der Hand. Und der Kommissar wan d te sich eiligst einem Schaufenster zu, um nicht bemerkt zu werden. Die Frau war eine Bäuerin, sonntäglich aufg e putzt, mit auf der Frisur balancierendem Hut, die Tai l le durch ein Korsett versteift. Sie bewegte sich gemessenen Schrittes, den Buben hinter sich herziehend, ohne sich mehr um ihn zu kümmern als um ein Paket.
Es war die Mutter von Ernest, dem Rotschopf, der in Saint-Fiacre bei der Messe ministrierte.
Die Straße war belebt. Ernest wäre gern da und dort vor Auslagen stehengeblieben, doch er wurde im Kielwasser des schwarzen Rocks weitergezerrt. Dann beugte sich seine Mutter zu ihm hinunter, um ihm etwas zu s a gen. Und als ob das im voraus abgemacht gewesen wäre, betrat sie mit ihm ein Spielwarengeschäft.
Maigret wagte nicht, näher heranzugehen. Pfeiftöne, die alsbald aus dem Laden kamen, setzten ihn indes darüber ins Bild, was sich abspielte. Sämtliche vorhandenen Pfeifen wurden ausprobiert, bis der Chorknabe sich en d lich für eine zweitönige Pfadfinderpfeife zu entscheiden schien.
Als er herauskam, trug er sie an einer Schnur um den Hals, doch seine Mutter zerrte ihn wieder hinter sich her und hinderte ihn, das Instrument auf der Straße zu b e nutzen.
Die typische Provinz-Bankfiliale. Eine lange eichene Schalterfläche. Fünf über Schreibtische gebeugte Angestellte. Maigret wandte sich dem Schalter zu, der mit Kontokorrent beschildert war, und ein Angestellter erhob sich, wartete dienstbereit.
Maigret wollte sich nach dem genauen Vermögensstand der Saint-Fiacre erkundigen und insbesondere nach den während der letzten Wochen oder Tage eingetretenen Kontobewegungen, aus denen sich etwas schließen lassen mochte.
Zunächst verharrte er jedoch einen Augenblick wortlos, den jungen Mann betrachtend, der in korrekter Haltung, ohne Ungeduld, vor ihm stand.
»Emile Gautier, wie ich vermute?«
Er hatte ihn zweimal auf dem Motorrad vorbeifahren sehen, das Gesicht jedoch nicht deutlich wahrgeno m men. Was ihn erkennen ließ, mit wem er es zu tun hatte, war eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Schloßgutsverwa l ter. Weniger eine Ähnlichkeit bestimmter Züge als eine Ähnlichkeit des Typs. Der gleiche bäuerliche Schlag: ka n tige Züge und kräftiger Knochenbau. Die gleiche Evolutionsstufe, oder beinahe, die sich durch etwas gepflegtere Haut als jene der Landarbeiter ausprägte, durch einen intelligenteren Blick, die Selbstsicherheit des »geschulten« Mannes.
Ein junger Städter war Emile indessen noch nicht. Sein Haar, obschon pomadisiert, blieb widerspenstig, sträubte sich am Wirbel nach allen Seiten. Seine Backen waren rosig, mit jenem wohlgewaschenen Aussehen wie bei Dorfburschen am Sonntagmorgen.
»Ja, der bin ich.«
Er wirkte unbesorgt. Maigret dachte sich von vornherein, daß er ein musterhafter Angestellter war, dem sein Direktor voll vertraute und der rasch aufsteigen würde.
Ein schwarzer Anzug, nach Maß gefertigt, aber von einem einheimischen Schneider. Sein Vater benützte Anknöpfkragen aus Zelluloid. Er trug
Weitere Kostenlose Bücher