Maigret und die Tänzerin Arlette
auch ihr schien die Arbeit hier sehr zu behagen. Zweifellos hatten sie lange davon geträumt, sich selbständig zu machen, und noch jetzt war das alles wie ein Spiel für sie.
»Wissen Sie, Sie sollten sich an den Tisch 6 setzen, dort wo Arlette und ihr Liebhaber heute nacht gesessen haben. Wenn Sie Tanja sprechen wollen, warten Sie, bis eine Java gespielt wird. Dann nimmt nämlich Jean sein Akkordeon, und sie kann das Klavier verlassen. Früher hatten wir eine Pianistin. Aber als wir sie dann engagierten und ich erfuhr, daß sie Klavier spielen konnte, habe ich mir gedacht, wir könnten uns die Ausgabe sparen. – Ach, da kommt Betty herunter. Soll ich sie Ihnen vorstellen?«
Maigret hatte wie ein Gast in der Box Platz genommen, und Fred führte eine junge Frau mit rötlichem Haar, die ein blaues Paillettekleid trug, zu ihm.
»Das ist Kommissar Maigret, der sich mit der Aufklärung des Mordes an Arlette befaßt. Du brauchst keine Angst zu haben. Der ist in Ordnung.«
Wenn sie nicht so muskulös und knochig wie ein Mann gewesen wäre, hätte man sie fast hübsch finden können. Im ersten Augenblick wirkte sie wie ein Jüngling in Frauenkleidern. Es hatte etwas Peinliches. Selbst ihre Stimme war tief und ein wenig rauh.
»Soll ich mich an Ihren Tisch setzen?«
»Ich bitte Sie darum. Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, im Augenblick lieber nicht. Désiré wird mir ein Glas hinstellen, das genügt.«
Sie machte einen müden und bedrückten Eindruck. Man konnte sich schwer vorstellen, daß es hier ihre Aufgabe war, die Männer zu erregen, und sie schien sich darüber selber nicht viel Illusionen zu machen.
»Sind Sie Belgierin?« fragte er sie, weil ihr Akzent so klang.
»Ich bin aus Anderlecht bei Brüssel. Bevor ich herkam, gehörte ich zu einer Akrobatentruppe. Ich habe ganz jung angefangen. Mein Vater arbeitete in einem Zirkus.«
»Wie alt sind Sie?«
»Achtundzwanzig. Ich bin nicht mehr geschmeidig genug für meinen eigentlichen Beruf, und deshalb habe ich mich aufs Tanzen verlegt.«
»Verheiratet?«
»Ich war mit einem Jongleur verheiratet, aber er hat mich sitzenlassen.«
»Sind Sie in der letzten Nacht mit Arlette fortgegangen?«
»Wie jede Nacht. Tanja wohnt in der Nähe der Gare Saint Lazare und geht immer die Rue Pigalle hinunter. Sie ist stets vor uns fertig. Ich wohne nur zwei Schritte von hier, und Arlette und ich haben uns immer an der Ecke der Rue Notre-Dame-de-Lorette getrennt.«
»Ist sie nicht direkt nach Hause gegangen?«
»Nein, das kam öfter bei ihr vor. Sie tat so, als böge sie rechts ab, aber wenn ich außer Sichtweite war, hörte ich sie die Straße zurückkehren, weil sie in dem Lokal an der Rue de Douai noch etwas trinken wollte.«
»Warum tat sie das heimlich?«
»Leute, die trinken, haben’s gewöhnlich nicht gern, daß man sieht, wie sie immer noch einen kippen wollen.«
»Trank sie viel?«
»Bevor sie fortging, hatte sie mit mir zwei Kognak getrunken, und vorher schon reichlich Champagner. Ich bin auch fest davon überzeugt, daß sie bereits getrunken hatte, bevor sie herkam.«
»Hatte sie Kummer?«
»Das weiß ich nicht. Sie hat mir jedenfalls nichts davon gesagt. Ich glaube eher, es war ihr alles zuwider.«
Betty war vielleicht auch alles ein wenig zuwider, denn sie sagte das mit trüber Miene und einer monotonen, gleichgültigen Stimme.
»Was wissen Sie von ihr?«
Zwei Gäste traten eben ein, ein Mann und eine Frau, die Désiré an einen Tisch zu lotsen versuchte. Angesichts des leeren Saals zögerten sie und blickten sich fragend an. Schließlich sagte der Mann leicht verlegen: »Wir kommen noch mal wieder.«
»Leute, die sich in der Etage geirrt haben«, bemerkte Betty seelenruhig. »Das waren nicht die richtigen für uns.« Sie zwang sich ein Lächeln ab.
»Der Betrieb hier fängt erst in einer guten Stunde an. Manchmal beginnen wir mit unserem Programm vor nur drei Zuschauern.«
»Warum hatte Arlette sich gerade diesen Beruf erwählt?«
Sie sah ihn lange an und murmelte dann:
»Ich habe sie oft danach gefragt. Aber sie hat mir nie eine Antwort darauf gegeben. Vielleicht hat’s ihr Freude gemacht.«
Sie blickte zu den Fotos an den Wänden hin.
»Wissen Sie, woraus ihre Nummer bestand? Es wird bestimmt nicht so leicht jemand zu finden sein, der das so kann wie sie. Das scheint sehr einfach. Wir haben es alle probiert, aber ich kann Ihnen sagen, das ist verdammt schwer. Wenn das nämlich nicht richtig gemacht wird, wirkt es sofort anstößig. Man
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