Maigret und die Tänzerin Arlette
gelebt. Erst in dem roten Licht des Picratt war sie immer richtig wach geworden, und sie war fast nur Männern begegnet, die zuviel getrunken hatten und von dem Gnom am Ausgang anderer Lokale abgefangen worden waren.
Maigret hatte Bettys Auftritt beigewohnt. Da sie wußte, daß er ihr aufmerksam zusah, schien sie sich für ihn besonders ins Zeug zu legen, wobei sie ihm immer wieder vertraulich zugezwinkert hatte. Um drei Uhr, als sie mit ihrer Nummer fertig war und sich oben umzog, waren noch zwei Holländer gekommen – ganz hübsch angetrunken, und da es im Lokal in dem Augenblick ziemlich still war, war Fred zur Küche gegangen und dann wohl zu ihr hinaufgestiegen, um ihr zu sagen, sie solle gleich wieder herunterkommen.
Sie hatte ihren Tanz wiederholt, aber diesmal allein für die beiden Männer, wobei sie ihnen mit dem ausgestreckten Bein fast ins Gesicht gefahren war und zum Schluß den einen auf die Glatze geküßt hatte. Bevor sie sich von neuem umzog, hatte sie sich dem anderen auf den Schoß gesetzt und einen Schluck Champagner aus seinem Glas getrunken.
Hatte Arlette sich ebenso benommen? Nein, so plump hatte sie es wohl nicht gemacht.
Sie sprachen ein wenig französisch, sehr wenig nur, und sie müßte immer wiederholen, bis sie sie verstanden:
»Fünf Minuten… fünf Minuten… komme wieder…«
Sie zeigte ihnen, um es noch deutlicher zu machen, ihre fünf Finger und kehrte auch wirklich kurz darauf in ihrem Paillettekleid zurück und bestellte bei Désiré eigenmächtig eine zweite Flasche für die beiden.
Tanja hatte sich dagegen mit einem einsamen Gast abgegeben, der vom Trinken melancholisch geworden war. Während er ihr nacktes Knie tätschelte, schien er sich seine Ehenöte von der Seele zu reden.
Die Hände der beiden Holländer fuhren unablässig über Bettys Körper. Sie lachten laut, wurden immer roter im Gesicht, und auf dem Tisch erschien eine Flasche nach der anderen, die dann, kaum geleert, auf den Boden gestellt wurden. Zum Schluß merkte Maigret, daß einige dieser leeren Flaschen von vornherein nur halbvoll gewesen waren. Das war Freds Trick, den er auch ohne jede Scheu mit einem Blinzeln eingestand.
Zwischendurch war Maigret in den Waschraum gegangen. Im Vorraum lagen Kämme, Bürsten, Puder und Schminke auf einem Tischchen, und Rosa war ihm dorthin gefolgt.
»Mir ist noch etwas eingefallen, was für Sie vielleicht von Nutzen sein kann«, sagte sie. »Als ich Sie hier eben hineingehen sah, mußte ich plötzlich daran denken. Wenn sich die Mädchen hier zurecht machen, erzählen sie sich meistens Dinge, die nicht für andere Ohren bestimmt sind. Arlette war zwar nie sehr gesprächig, aber sie hat mir doch einiges gesagt, und ich habe daraus anderes erraten.«
Sie reichte ihm Seife und ein sauberes Handtuch.
»Sie war bestimmt aus anderen Kreisen als wir. Sie hat mir nie etwas von ihrer Familie berichtet, sie hat das übrigens, glaube ich, niemandem gegenüber getan, aber sie hat mehrmals das Kloster erwähnt, in dem sie erzogen worden war.«
»Erinnern Sie sich noch genau an ihre Worte?«
»Wenn man sich mit ihr über eine harte, boshafte Frau unterhielt, besonders über gewisse Frauen, die gut scheinen und hintenherum gemein sind, dann murmelte sie immer – und man merkte ihr deutlich an, daß ihr da etwas schwer auf dem Herzen lag –, also dann murmelte sie: ›Sie ist genau wie Mutter Eudice.‹
Ich habe sie gefragt, wer das sei, und sie hat mir geantwortet, der Mensch, den sie am meisten hasse und der ihr das Böseste zugefügt habe. Es war die Oberin des Klosters, und sie hatte eine heftige Abneigung gegen Arlette. Ich erinnere mich noch einer Bemerkung von ihr. ›Ich hätte etwas Schlechtes getan, nur um sie zur Raserei zu bringen.‹«
»Hat sie nie den Namen des Klosters genannt?«
»Nein, aber es ist nicht weit vom Meer, denn sie hat verschiedentlich vom Meer gesprochen wie jemand, der dort seine Kindheit verbracht hat.«
Es war eine komische Szene. Während Rosa ihm diesen Vortrag hielt, bürstete sie ihm wie jedem Gast ganz mechanisch Rücken und Schultern ab.
»Ich glaube auch, sie hat ihre Mutter gehaßt. Sie hat zwar nie etwas davon gesagt, aber eine Frau spürt das. Eines Abends waren hier gute Gäste, die zu den allerersten Kreisen gehörten, darunter besonders die Frau eines Ministers, die wirklich eine große Dame zu sein schien. Sie machte einen traurigen und bekümmerten Eindruck, achtete gar nicht auf die Vorführungen, nippte nur an ihrem Glas
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