Maigret und die Tänzerin Arlette
den Mund aufgemacht. Ich hab’s ihr erst gesagt, als ich das nächstemal allein wiederkam.«
»Was hat sie dir darauf geantwortet?«
»Sie hat gemeint, ich sei noch viel zu jung, und ich habe ihr erwidert, ich sei schon vierundzwanzig und älter als sie.
›Es sind nicht die Jahre, die zählen, mein Lieber‹, hat sie eingewandt, ›ich bin viel älter als du.‹ Sehen Sie, sie war sehr traurig, ich möchte sagen, sogar verzweifelt. Und gerade deswegen habe ich sie, glaube ich, geliebt. Sie lachte und scherzte, aber es war immer eine Bitterkeit darin. Es gab Augenblicke…«
»Fahr nur fort.«
»Ich weiß, Sie halten mich auch für einen Kindskopf. Sie versuchte, mir meine Liebe zu ihr auszureden, benahm sich absichtlich gewöhnlich und gebrauchte abscheuliche Worte.
›Warum begnügst du dich nicht wie all die anderen damit, mit mir zu schlafen? Rege ich dich nicht auf? Ich könnte dir mehr beibringen, als irgendeine andere Frau. Ich wette, keine hat solch eine Erfahrung wie ich, und keine kann es so gut wie ich…‹
Ja, und dann hat sie noch gesagt, wie mir gerade einfällt: ›Ich bin in einer guten Schule gewesen.‹«
»Hast du nie Lust gehabt, es mal mit ihr zu probieren?«
»Ich habe sie sehr begehrt. Manchmal konnte ich mich kaum beherrschen. Aber das wollte ich dann doch nicht. Es hätte alles verdorben, verstehen Sie?«
»Ich verstehe. Und was sagte sie dazu, als du ihr vorschlugst, ein anderes Leben zu beginnen?«
»Sie lachte, nannte mich ihr kleines Unschuldslamm und trank dann nur noch mehr. Ich bin überzeugt, daß das nur Verzweiflung war. Haben Sie den Mann noch nicht ausfindig gemacht?«
»Welchen Mann?«
»Den, den sie Oskar genannt hat.«
»Man hat noch keinerlei Spur von ihm entdeckt. Aber nun sag mir mal, was du heute nacht gemacht hast?«
Lapointe hatte einen prall gefüllten Aktendeckel mitgebracht. Es waren die bei der Gräfin gefundenen Papiere, die er sorgfältig geordnet hatte, außerdem hatte er noch mehrere Blätter mit Notizen hinzugefügt.
»Ich habe die ganze Lebensgeschichte der Gräfin rekonstruieren können. Heute früh habe ich einen telefonischen Bericht von der Polizei in Nizza bekommen.«
»Erzähle.«
»Erst einmal, ich weiß nun ihren richtigen Namen: Madeleine Lalande.«
»Den hast du mir schon gestern, als wir von ihr sprachen, genannt.«
»Ach ja, stimmt, verzeihen Sie. Sie ist in La Roche-sur-Yon geboren, wo ihre Mutter Putzfrau war. Ihren Vater hat sie nicht gekannt. Sie ist als Zimmermädchen nach Paris gekommen, aber schon ein paar Monate später hatte sie jemand, der sie aushielt. Sie hat mehrmals ihren Geliebten gewechselt und ist dabei immer ein Stück weiter aufgestiegen, und vor fünfzehn Jahren war sie eine der schönsten Frauen an der Côte d’Azur.«
»Nahm sie damals schon Rauschgifte?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe nichts gefunden, was darauf schließen ließe. Sie hat viel gespielt und in den verschiedenen Kasinos verkehrt. Dann hat sie den Grafen Farnheim kennengelernt, der aus einer alten österreichischen Familie stammte und zu der Zeit fünfundsechzig Jahre alt war. Ich habe die Briefe des Grafen hier alle nach Daten eingeordnet.«
»Hast du sie alle gelesen?«
»Ja. Er hat sie leidenschaftlich geliebt.«
Lapointe wurde rot, als ob es seine eigenen Liebesbriefe wären.
»Sie sind sehr rührend. Er war sich selber darüber klar, daß er nur noch ein impotenter Greis war. Die ersten sind noch ganz förmlich. Er nennt sie darin ›Madame‹, dann ›Meine liebe Freundin‹ und schließlich ›Mein kleines Mädchen‹ und flehte sie an, nicht von ihm fortzugehen und ihn nie allein zu lassen. Immer wieder schreibt er, er habe nur sie auf der Welt, und es wäre ihm einfach unvorstellbar, die letzten Jahre seines Lebens ohne sie verbringen zu müssen.«
»Haben sie gleich miteinander geschlafen?«
»Nein, das geschah erst nach Monaten. Er erkrankte in einer möblierten Villa, in der er wohnte, bevor er die Oase kaufte, und bat sie, als sein Gast dorthin zu kommen, was sie dann auch tat. Jeden Tag saß sie mehrere Stunden an seinem Krankenbett.
Man spürt an jeder Zeile, daß er es ehrlich meint, daß er sich verzweifelt an sie klammert und zu allem bereit ist, wenn er sie nur nicht verliert.
Mit Bitterkeit spricht er von dem Altersunterschied und daß er wisse, es sei kein angenehmes Leben, das er ihr bieten könne.
›Aber es wird nicht für lange sein‹, schreibt er in einem der Briefe, ›ich bin alt und krank. In
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