Maigret und die Unbekannte
gegangen war, um sich ein Abendkleid zu leihen. Das erstemal hatte sie die Leihgebühr bezahlt. Das zweitemal hatte sie noch zwei- oder dreihundert Francs in der Tasche, die kaum für ein Taxi oder ein sehr bescheidenes Essen ausreichten.
Hatte sie sich das erstemal auf den Telefonanruf hin zu Mademoiselle Irene begeben? Das war unwahrscheinlich. Denn an jenem Abend war sie nicht so spät in den Laden gekommen.
Außerdem war sie um sechs Uhr früh in ihrem gewöhnlichen Kleid und ihrem gewöhnlichen Mantel in die Rue de Clichy zurückgekehrt und hatte zu der Zeit Mademoiselle Irene das blauseidene Kleid noch nicht zurückbringen können, da diese immer erst spät aufstand.
Aus dem allem ging hervor, daß sie vor zwei Monaten, zu Jahresanfang, sich ein Zimmer gemietet hatte. Aber schon damals hatte sie nur wenig Geld; denn sie hatte den Mietpreis heruntergehandelt. Morgens ging sie fast immer zur gleichen Zeit aus dem Hause, erst um halb neun und dann nach neun.
Was machte sie tagsüber? Und was an den Abenden, die sie nicht in ihrem Zimmer verbrachte?
Sie las nicht. In dem Zimmer fand sich kein Buch, nicht einmal eine Zeitschrift. Genäht hat sie auch nicht, höchstens ihre Wäsche und ihre Strümpfe ausgebessert, denn in einer Schublade lagen nur drei Garnrollen, ein Fingerhut, eine Schere, beigefarbene Seide für die Strümpfe und ein paar Nähnadeln.
Nach Dr. Pauls Meinung war sie etwa zwanzig Jahre alt.
»Ich kann Ihnen schwören, das ist das letztemal, daß ich ein Zimmer vermietet habe.«
»Sie machte ihr Zimmer wohl selber?«
»Ich bin doch nicht ihr Dienstmädchen! Eine von ihnen wollte, daß ich es machte, aber Sie können mir glauben, die habe ich gleich hinausgesetzt.«
»Wie verbrachte sie ihre Sonntage?«
»Morgens schlief sie lange, und schon gleich in der ersten Woche habe ich gemerkt, daß sie nicht in die Messe ging. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht katholisch sei. Sie hat mir geantwortet, ja, aber nur um etwas zu sagen, verstehen Sie? An manchem Sonntag ging sie erst um ein Uhr fort. Ich nehme an, ins Kino. Ich erinnere mich, daß ich in ihrem Zimmer einmal eine Kinoeintrittskarte gefunden habe.«
»Wissen Sie nicht, für welches Kino?«
»Darauf habe ich nicht geachtet. Es war ein rosa Billett.«
»Nur eins?«
Plötzlich musterte Maigret die Alte mit einem scharfen Blick, als ob er sie am Lügen hindern wollte.
»Was hatte sie in ihrer Handtasche?«
»Woher sollte ich…«
»Antworten Sie. Sie haben bestimmt einmal einen Blick hineingeworfen, wenn sie sie liegenließ.«
»Sie ließ sie selten liegen.«
»Einmal genügte. Haben Sie ihren Personalausweis gesehen?«
»Nein.«
»Hatte sie keinen?«
»In ihrer Handtasche nicht. Jedenfalls nicht an jenem Tage. Erst vor einer Woche hatte ich Gelegenheit, in die Tasche zu gucken. Mir stieg da ein Verdacht auf.«
»Was für ein Verdacht?«
»Hätte sie regelmäßig gearbeitet, hätte sie ihre Miete bezahlen können. Es war mir auch noch nie zuvor ein junges Mädchen ihres Alters begegnet, das nur ein einziges Kleid besaß. Und wie ich’s auch anstellte, ich konnte nicht herausbekommen, was sie tat, woher sie kam, wo ihre Angehörigen wohnten.«
»Was haben Sie vermutet?«
»Daß sie vielleicht von zu Hause ausgerissen sei oder auch…«
»Was?«
»Ich weiß es nicht. Ich wußte nicht, wo ich sie hintun sollte, verstehen Sie? Bei manchen Leuten weiß man gleich, woran man ist, aber bei ihr nicht. Ihre Sprache verriet nicht, woher sie kam. Sie wirkte auch nicht, als ob sie vom Lande käme. Ich glaube, sie war gebildet. Bis auf ihre sonderbare Art, nicht auf meine Fragen zu antworten und mir immer aus dem Weg zu gehen, war sie recht gut erzogen.
Ja, ich glaube, sie hatte wirklich eine gute Kinderstube.«
»Was war in ihrer Handtasche?«
»Ein Lippenstift, eine Puderdose, ein Taschentuch, Schlüssel.«
»Was für Schlüssel?«
»Der Wohnungsschlüssel, den ich ihr gegeben hatte, und der von ihrem Koffer. Außerdem ein abgenutztes Portemonnaie mit etwas Geld und einem Foto darin.«
»Dem Foto eines Mannes oder einer Frau?«
»Eines Mannes. Aber nicht das, was Sie denken. Es war schon mindestens fünfzehn Jahre alt, ganz vergilbt und eingerissen, und der Mann darauf war bestimmt über vierzig.«
»Können Sie ihn mir beschreiben?«
»Ein eleganter, schöner Mann. Was mir auffiel, war, daß er einen sehr hellen Anzug, wahrscheinlich aus Leinen, trug, wie ich sie oft in Nizza gesehen habe. Und ich mußte auch darum an Nizza
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