Maigret und Monsieur Charles
beide intelligent. Aber Nathalie ist eine regelrechte Megäre... Du hast ja gehört, was der Psychiater uns erzählt hat... Dabei kommt mir ein Satz in den Sinn, den ich vor kurzer Zeit gelesen habe: Besessen bis zur Gewissenlosigkeit. ..«
»Glauben Sie, das trifft auf sie zu?«
»Ja. Jedenfalls wenn sie getrunken hat... Und so, wie sie schon morgens unter Alkoholeinfluss steht, wird sie zu einer gefährlichen Frau...«
»Aber gleich ihren Mann zu töten...«
»Ich weiß... Und doch beginnt sie nervös zu werden ... Ich werde noch einmal zu ihr gehen, nur um sie in die Enge zu treiben...«
»Und wenn sie diejenige war, die Angst hatte?«
»Vor wem?«
»Vor ihrem Mann... Vielleicht hätte er sie bisweilen auch gern tot gesehen... Fünfzehn Jahre hat er sie nun ertragen, aber manchmal kommt ein Augenblick, wo der Geduldsfaden reißt...«
Wieder lachte Maigret spöttisch.
»Wir müssen boshaft aussehen, alle beide, wie wir da Hypothesen aufstellen auf Grundlagen, die wir gar nicht kennen...«
Er nahm keinen Cognac nach seinem Kaffee. Cognac war ihm für lange Zeit verleidet, nachdem er gesehen hatte, wie die Frau des Notars ihn in sich hineinschüttete, als ob es Wasser wäre.
4
Maigret saß an seinem Schreibtisch und blickte mit Augen, die fast aussahen, als schliefe er, auf den Mann, der ihm in strammer Chauffeursuniform gegenübersaß und verlegen seinen Hut in den Händen drehte und wendete.
Lapointe befand sich mit seinem unvermeidlichen Stenoblock am anderen Ende des Schreibtischs. Lapointe war zum Boulevard Saint-Germain gefahren, um den Chauffeur abzuholen, und hatte ihn in seinem Zimmer über den Garagen angetroffen.
Maigret hatte seinen verschüchterten Gesprächspartner nötigen müssen, Platz zu nehmen.
»Sie heißen Vittorio Petrini?«
»Ja, Monsieur.«
Er war so diszipliniert, dass man jeden Augenblick darauf gefasst war, ihn Habachtstellung einnehmen zu sehen.
»Geboren?«
»In Patino, einem kleinen Dorf südlich von Neapel.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein, Monsieur.«
»Seit wann sind Sie in Frankreich?«
»Zehn Jahre, Monsieur.«
»Sind Sie sofort in die Dienste Ihrer jetzigen Herrschaft getreten?«
»Nein, Monsieur. Ich bin vier Jahre beim Marquis d’Orcel gewesen.«
»Aus welchem Grund haben Sie ihn verlassen?«
»Weil er gestorben ist, Monsieur.«
»Sagen Sie mir, worin Ihre Arbeit bei den Sabin-Levesques besteht.«
»Ich habe nicht viel zu tun, Monsieur. Vormittags kaufe ich ein, für Mademoiselle Jalon...«
»Die Köchin?«
»Sie tut sich mit dem Gehen ein wenig schwer. Sie ist schon recht alt. Danach kümmerte ich mich um die Wagenpflege, jedenfalls wenn Monsieur mich nicht brauchte.«
»Sie sprechen im Imperfekt...«
»Wie bitte, Monsieur?«
»Sie sprechen, als ob es Vergangenheit wäre...«
»Ich habe Monsieur lange nicht mehr gesehen.«
»Welchen Wagen benutzte er?«
»Manchmal den Fiat, manchmal den Bentley, das hing von den Klienten ab, die er besuchte. Es kam vor, dass wir fünfzig oder hundert Kilometer weit von Paris wegfuhren. Viele der Klienten von Monsieur sind sehr alt und kommen nicht mehr in die Stadt. Manche wohnen in sehr schönen Schlössern...«
»Spricht Ihr Herr unterwegs mit Ihnen?«
»Manchmal, Monsieur. Er ist ein sehr guter Herr, gar nicht eingebildet, fast immer gut aufgelegt.«
»Madame geht vormittags nie aus?«
»Fast nie. Claire, ihre Zofe, hat mir gesagt, dass sie sehr spät aufsteht. Manchmal isst sie nicht einmal zu Mittag.«
»Und nachmittags?«
»Da brauchte mich Monsieur fast nie. Er blieb im Büro.«
»Fuhr er nicht selbst?« »Manchmal schon. Dann nahm er aber lieber den Fiat.«
»Und Madame?«
»Sie ging manchmal gegen vier oder fünf Uhr aus. Ohne mich. Ohne Auto. Anscheinend ging sie ins Kino, fast immer in eins der Kinos im Quartier Latin, und zurück kam sie im Taxi.«
»Ist es Ihnen nicht seltsam vorgekommen, dass sie Sie nicht bittet, sie hinzufahren und wieder abzuholen?«
»Doch, Monsieur. Aber es kommt mir nicht zu, darüber zu urteilen.«
»Lässt sie sich manchmal von Ihnen fahren?«
»Ja, ein-, zweimal die Woche.«
»Wohin lässt sie sich fahren?«
»Nicht weit. In die Rue de Ponthieu. Sie ging immer in eine kleine englische Bar und blieb ziemlich lange dort.«
»Wissen Sie den Namen der Bar?«
»Ja, Monsieur. Le Pickwick...«
»Wie war sie, wenn sie wieder herauskam?«
Der Chauffeur zögerte, auf diese Frage zu antworten.
»War sie betrunken?« insistierte Maigret.
»Manchmal half ich
Weitere Kostenlose Bücher