Maigret und Monsieur Charles
ihr beim Einsteigen.«
»Kehrte sie dann sofort nach Hause zurück?«
»Nicht immer. Manchmal ließ sie mich an einer anderen Bar haltmachen, im Hotel >George V<.«
»Verließ sie die auch allein?«
»Ja, Monsieur.«
»Konnte sie allein ins Auto steigen?«
»Ich half ihr dabei, Monsieur.«
»Und abends?«
»Abends ging sie nie aus.«
»Und Ihr Chef?« »Er ging aus, aber ohne Auto. Er nahm, glaube ich, lieber ein Taxi.«
»Jeden Abend?«
»O nein. Manchmal ging er acht oder zehn Tage lang nicht aus.«
»Kam es auch vor, dass er tagelang nicht nach Hause kam?«
»Ja, Monsieur.«
»Haben Sie nie die beiden miteinander gefahren?«
»Nie, Monsieur. Oder doch, ein einziges Mal, zu einer Beerdigung. Vor drei oder vier Jahren...«
Er fingerte immer noch an seiner ledernen Schirmmütze herum. Seine blaue Uniform war gut geschnitten, seine Schuhe auf Hochglanz poliert.
»Was halten Sie von Ihrer Herrin?«
Er wurde verlegen und deutete ein Lächeln an.
»Sie wissen doch Bescheid, nicht wahr? Es steht mir nicht zu, über sie zu sprechen... Ich bin nur der Chauffeur ...«
»Wie verhielt sie sich Ihnen gegenüber?«
»Das kam darauf an. Manchmal sagte sie kein Wort und kniff die Lippen zusammen, als sei sie böse auf mich. Ein andermal nannte sie mich ihren kleinen Vito und redete wie ein Buch...«
»Worüber?«
»Das ist schwer zu sagen. Zum Beispiel:
>Wie soll ich nur dieses Leben weiter ertragen...<
Oder wenn sie mir befahl, sie nach Hause zu fahren:
>Zum Gefängnis, Vito...<«
»So nannte sie das Haus am Boulevard Saint-Germain?«
»Wenn sie durch mehrere Bars gezogen war, ja.
>Wissen Sie, ich trinke nur wegen Monsieur, diesem Schweinehund. Jede andere Frau an meiner Stelle würde das Gleiche tun...<
Dinge dieser Art, verstehen Sie? Ich hörte ihr zu, ohne etwas zu sagen. Ich bin Monsieur sehr zugetan ...«
»Und ihr?«
»Darauf möchte ich lieber nicht antworten.«
»Erinnern Sie sich an den 18. Februar?«
»Nein, Monsieur.«
»An diesem Tag ist Ihr Herr zum letzten Mal aus dem Haus gegangen.«
»Er muss allein ausgegangen sein, denn er hat keinen Wagen verlangt.«
»Was machen Sie abends?«
»Ich lese oder sehe fern. Ich versuche, meinen Akzent loszuwerden, aber ich schaffe es nicht...«
Das Klingeln des Telefons unterbrach das Gespräch. Maigret gab Lapointe ein Zeichen, den Hörer abzunehmen.
»Ja, er ist hier... Ich gebe ihn Ihnen...«
Und zu Maigret:
»Der Polizeikommissar vom XV. Arrondissement.«
»Hallo, Jadot...«
Maigret kannte ihn gut und mochte ihn sehr.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, Herr Bezirkskommissar... Ich dachte, was ich zu sagen habe, könnte Sie besonders interessieren... Ein belgischer Schiffer, Jef Van Roeten, der am Quai de Grenelle seinen Motor ausprobierte, sah in der Kielwasserströmung plötzlich eine Leiche aufsteigen...«
»Haben Sie sie identifiziert?«
»Die Brieftasche steckte noch in der Hosentasche... Gerard Sabin-Levesque, sagt Ihnen das etwas?« »Ja, verdammt viel. Sind Sie an Ort und Stelle?«
»Noch nicht. Ich wollte Sie zuerst benachrichtigen. Wer ist der Mann?«
»Ein Notar vom Boulevard Saint-Germain, der seit über einem Monat verschwunden ist. Ich komme sofort. Wir sehen uns dort unten... Vielen Dank auch...«
Maigret schob sich eine zweite Pfeife in die Tasche und wandte sich an den Chauffeur.
»Ich brauche Sie im Augenblick nicht mehr. Sie können gehen. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe...«
Sobald er mit Lapointe allein war, stieß Maigret hervor:
»Er ist wirklich tot...«
»Sabin-Levesque?«
»Die Leiche ist gerade aus der Seine geborgen worden, am Quai de Grenelle... Komm mit... Gib zuerst noch dem Erkennungsdienst Bescheid...«
Das kleine Auto schlängelte sich durch die Staus und kam in Rekordzeit am Pont de Grenelle an. Unterhalb der Chaussee, am Seineufer, lagen Bohlen, aufgestapelte Ziegelsteine und Fässer. Zwei, drei Lastkähne waren dabei, ihre Ladung zu löschen.
Um eine leblose,, Gestalt herum standen etwa fünfzig Leute, die ein Schutzmann nur mit größter Mühe auf Distanz zu halten vermochte.
Jadot war schon da.
»Der Stellvertreter des Staatsanwalts wird bald hier sein...«
»Haben Sie die Brieftasche?«
»Ja.«
Er reichte sie. Maigret. Natürlich war sie aufgeweicht, schmierig, völlig durchnässt. Sie enthielt drei Fünfhundert-Francs-Scheine und einige Hunderter, einen Personalausweis und einen Führerschein. Die Tinte war verwässert, aber manche Wörter waren noch lesbar.
»Sonst
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