Maigret und Monsieur Charles
Zimmer...«
Sie versuchte zu protestieren, aber er fasste sie an der Hand, während er in der anderen seine Arzttasche hielt.
»Monsieur Maigret... Erlauben Sie ihm nicht, mich wegzubringen...«
Claire folgte ihnen. Der Kommissar wusste nicht recht, was er tun sollte und setzte sich schließlich in einen Sessel im großen Salon, durch den der Arzt kommen musste.
Es ging viel schneller, als er erwartet hatte. Der Doktor kam zurück, immer noch mit demselben, gleichgültigen Gesicht.
»Das ist mindestens das hundertste Mal«, sagte er. »Sie gehört in eine Klinik, wenigstens einige Zeit lang.«
»War sie schon so, als Sabin sie heiratete?«
»In weniger schlimmer Form. Aber die Gewohnheit zu trinken hatte sie schon damals, und sie brachte es nicht fertig, darauf zu verzichten. Am Anfang war da die Sache mit dem Hund, der ihr Angst machte, und ehrlich gesagt, zeigte ihr der Hund auch jedesmal die Zähne, wenn sie sich ihm oder Gerard näherte... Sie hat den Chauffeur hinauswerfen lassen und noch drei-, viermal gewechselt, ebenso wie sie die Zofe gewechselt hat...«
»Halten Sie sie für verrückt?«
»Nicht im eigentlichen Sinn des Wortes. Nennen wir es neurotisch. Wenn man so viel trinkt...«
Der Doktor wechselte von einem Augenblick zum anderen das Thema.
»Haben Sie herausgefunden, wer den armen Gerard umgebracht hat?... Meine Eltern wohnten schon in diesem Viertel, und wir haben zusammen im Jardin du Luxembourg gespielt... Dann waren wir wieder im Lyzeum zusammen und später als Studenten... Er war der beste Mensch der Welt...«
Während sie weiter plauderten, stiegen sie die Treppe hinunter und blieben noch einen Augenblick zusammen auf dem Bürgersteig stehen.
6
Zerstreut über die Seine blickend, ging Maigret die Quais entlang, die Pfeife im Mund, die Hände in den Taschen, und er schien keine gute Laune zu haben.
Er konnte nicht anders, er hatte ein schlechtes Gewissen. Er war hart, ja fast unbarmherzig zu Nathalie gewesen, und dabei hegte er doch gar keinen Groll gegen sie.
Vor allem heute nicht. Sie war völlig fertig, außerstande, ihre Rolle durchzuhalten, und plötzlich war sie zusammengebrochen. Er spürte, dass es kein Theater war, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Trotzdem hatte er gewissenhaft seine Arbeit getan, und wenn er eine gewisse Grausamkeit an den Tag gelegt hatte, so in der Überzeugung, dass es nötig war.
Der Arzt, der sie seit langem kannte, war im Übrigen nicht minder hart mit ihr umgesprungen.
Jetzt schlief sie unter der Wirkung der Spritze tief und fest. Aber wenn sie wieder aufwachte?
In der ganzen großen Wohnung gab es nur einen Menschen, der ihr ergeben war, Claire Marelle, ihre Zofe. Und das ging nun schon fünfzehn Jahre so.
Für die Köchin Marie Jalon, die Gerard Sabin-Levesque gewissermaßen aufgezogen hatte, war sie immer der Eindringling gewesen. Honoré, der Butler, beobachtete voller Abscheu das Defilee der Flaschen. Dann gab es eine Putzfrau, die jeden Morgen kam, eine gewisse Madame Ringuet, die Maigret nur im Vorbeige hen gesehen hatte und die er verdächtigte, ebenfalls zum Gérard-Clan zu gehören.
Der Notar war einer jener Menschen, die ihr Leben lang etwas Kindliches bewahren und denen man deswegen alles durchgehen lässt. Kindlich war an ihm sein ausgeprägter Egoismus, zugleich aber auch eine gewisse Unbefangenheit.
Schon vor seiner Heirat führte er das Leben, das er bald darauf wieder aufnehmen sollte. In seiner Notarskanzlei war er das Wunderkind, dem alles glückte. Und am Abend, wenn ihm danach war, wurde aus ihm Monsieur Charles.
Man kannte ihn in den meisten Nachtclubs in der Umgebung der Champs-Elysees. Eines war merkwürdig, was diesen Punkt betraf. Weder in Saint-Germain-des-Pres noch in Montmartre war eine Spur von ihm zu finden. Er ging also in einer ganz bestimmten Gegend auf die Jagd, wenn man so sagen darf, und zwar nur in der feinsten und snobistischsten.
»Guten Abend, Monsieur Charles«, sagten die betressten Portiers respektvoll und mit einem Anflug von Vertraulichkeit zu ihm, sobald sie seiner ansichtig wurden.
Und für einen guten Teil der Nacht war er dann der ewig junge Monsieur Charles, der allen zulächelte und üppige Trinkgelder austeilte.
Die Animierdamen beobachteten ihn ihrerseits und fragten sich, ob sie heute an die Reihe kommen würden. Manchmal genügte es ihm, mit einer von ihnen eine Flasche Champagner zu trinken. Ein andermal nahm er ein Mädchen mit, und der Inhaber wagte keinen Einspruch zu
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