Maigret und Monsieur Charles
erheben.
Ein glücklicher Mann. Ein Mann ohne Probleme. In seinen eigenen Kreisen verkehrte; er nicht. In den Salons war er nie zu sehen. Er legte Wert auf die Unverbindlichkeit der leichten Mädchen, und wenn er bei einer von ihnen ein paar Tage verbrachte, dann vergnügte er sich damit, ihr bei kleinen Hausarbeiten zur Hand zu gehen.
Eine Ehe strebte er gewiss nicht an. Er verspürte nicht das Bedürfnis, eine Frau auf Dauer in seinem Haus zu haben.
Trotzdem hatte er Nathalie geheiratet. Hatte sie bei ihm Sanftheit und Fügsamkeit, ja die weibliche Schwachheit zum Einsatz gebracht? Wahrscheinlich. Auf ihrem Passfoto hatte sie den rührenden Gesichtsausdruck eines verletzlichen kleinen Mädchens.
Sie stellte sich unter seinen Schutz. Sie gab ihm das Gefühl, dass er stark war...
Sie hatte ganz in Weiß geheiratet wie ein wirkliches junges Mädchen, und als sie in das Haus am Boulevard Saint-Germain einzog, hatte sie gestaunt. Auch die große Villa im Stil des 18. Jahrhunderts in Cannes war ihr wie ein Paradies vorgekommen, und anfangs hatte sie auch den Hund geduldet, der ihr nicht gehörte und der ihr die Zähne zeigte.
Was hatte den Bruch herbeigeführt?
Sie war tagelang allein in der großen Wohnung. Ihr Schwiegervater und Gerard waren drunten, jeder in seinem Büro, und die Mahlzeiten hatten etwas Gezwungenes. Sie hatte noch nicht ihre Zofe Claire, sondern eine, für die sie nur die Frau des Chefs war.
Nach und nach hatte sie sich verhärtet. Zuerst hatte sie von ihrem Mann verlangt, sich von seinem Hund zu trennen, und er hatte es getan, wenn auch widerwillig. Abends hatten sie sich nichts zu sagen. Sie las nicht. Sie begnügte sich damit, fernzusehen.
Sie schliefen noch zusammen, ohne dass sich zwischen ihnen eine echte Vertrautheit einstellte.
Und eines schönen Tages war Gerard, ohne etwas zu sagen, ausgegangen, um im Étoile-Viertel wieder in die Rolle von Monsieur Charles zu schlüpfen.
Das war sein wahres Wesen, seine kindliche Seite. Er war voller Elan. Alle begrüßten ihn und feierten ihn.
Sie hatte geglaubt, der Mittelpunkt des Hauses zu werden, und nun war sie nur noch nutzloses Beiwerk. Er duldete sie. Er sprach nie von Scheidung, bald aber hatten sie getrennte Schlafzimmer, und sie härmte sich in ihrem Bett und fraß ihren Groll in sich hinein.
Die Luft war mild. Im Westen sank langsam die Sonne, und Maigret spazierte ohne Eile. Zweimal stieß er mit einem Passanten zusammen, der aus der Gegenrichtung kam.
Schon als Animierdame hatte sie getrunken, mehr oder weniger mäßig. In der Einsamkeit der Wohnung begann sie, mehr zu trinken, um sich zu betäuben.
Irrte sich Maigret? So jedenfalls rekonstruierte er ihre Vergangenheit. Je mehr sie trank, desto mehr zog sich ihr Mann von ihr zurück.
Ihr Schwiegervater war gestorben. Jetzt lastete noch mehr auf Gerard, und er brauchte erst recht Entspannung.
Fünfzehn Jahre lang hatten sie es ausgehalten, alle beide. Und genau das war es, was Maigret erschreckte. Fünfzehn Jahre lang waren sie sich immer wieder begegnet, ohne sich etwas zu sagen, in diesen Räumen, in denen niemand wirklich lebte. Schließlich konnte sie es nicht mehr ertragen, ihm bei Tisch gegenüber zu sitzen.
Sie war eine Fremde geworden, und sie hatte das Glück gehabt, Claire zu finden, die ihre einzige Verbündete geworden war.
Warum ging sie nicht weg? Warum ertrug sie dieses Leben, das sie erstickte?
Nachmittags ging sie ins Kino. Jedenfalls behauptete sie das. Von Zeit zu Zeit ließ sie sich vom Chauffeur in eine Bar im Champs-Elysées-Viertel fahren, wo sie trank, einsam auf einem hohen Barhocker sitzend.
Unaufgefordert füllten ihr die Barkeeper das Glas, sobald es leer war. Sie sprach mit niemandem. Niemand sprach mit ihr. Für die anderen war sie »die Trinkerin«.
Hatte sie schließlich doch einen Mann kennengelernt, der sich um sie gekümmert, ihr das Bewusstsein gegeben hatte, dass sie wichtig war?
Bislang ließ die Ermittlung eine solche Vermutung nicht zu. Vito bestätigte, dass sie immer allein, leicht schwankend, aus dieser oder jener Bar kam.
Jetzt war sie Witwe. Das Haus, die Kanzlei, das Vermögen gehörten ihr, aber war es nicht zu spät? Sie trank mehr denn je. Irgendetwas beängstigte sie. Es war, als fliehe sie vor der Wirklichkeit, vor dem Leben.
Wohin war sie gelaufen, als sie durch das Gartentürchen hinausgegangen war? Und wer hatte sie am Morgen angerufen?
Es war bei ihr schwer zu unterscheiden, was Wahrheit und was Lüge war. Sie war
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