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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ihr?«
    »Hören Sie …«
    Der Lette zitterte. Das war offensichtlich. Und er war ungewöhnlich nervös. Sein ganzes Gesicht, die ganze Person überlief ein Zucken.
    »Hören Sie! …«
    »Ich höre!« sagte Maigret beiläufig, mit dem Rücken zum Feuer.
    Seine Hand war zu seiner Revolvertasche geglitten. Er brauchte nur eine Sekunde, um anzulegen. Er lächelte, aber durch sein Lächeln hindurch merkte man, daß seine Aufmerksamkeit äußerst gespannt war.
    »Also? … Ich sage Ihnen doch, daß ich höre …«
    Doch der Lette griff zu einer Whisky-Flasche und stieß zwischen den Zähnen hervor:
    »Was soll’s …«
    Und er schenkte sich ein Glas voll, kippte es hinunter und sah seinen Gegner mit den trüben Augen Fedor Jurowitschs an. Auf seinem Kinn glitzerte ein Tropfen Whisky.

13
    Die beiden Pietr
     
    Nie hatte Maigret eine so schlagartige Trunkenheit erlebt. Niemals hatte er gesehen, wie ein Mann ein großes Wasserglas voll Whisky in einem Zug herunterstürzte, es wieder füllte und noch einmal leerte, es ein drittes Mal füllte, die Flasche schüttelte und den zweiundvierzigprozentigen Schnaps bis zum letzten Tropfen in sich hineinschüttete.
    Die Wirkung war eindrucksvoll. Pietr, der Lette, wurde purpurrot und Sekunden später leichenblaß. Nur ein paar unregelmäßige rote Flecken blieben auf seinen Wangen. Aus seinen Lippen wich das Blut. Er hielt sich an dem Tischchen fest, machte zwei, drei schwankende Schritte und stieß mit der Teilnahmslosigkeit eines Betrunkenen hervor:
    »Das haben Sie doch gewollt, hm? …«
    Und er verfiel in ein wirres Lachen, in dem alles enthalten war: Angst, Ironie, Bitterkeit und vielleicht Verzweiflung. Er warf einen Stuhl um, als er sich darauf stützen wollte, und wischte sich die feuchte Stirn ab.
    »Geben Sie doch zu, daß Sie es ganz allein nicht geschafft hätten … Es ist der reine Zufall …«
    Maigret rührte sich nicht. Er fühlte sich so unbehaglich, daß er am liebsten seinem Gegenüber ein Medikament gegeben hätte, um dieser Szene ein Ende zu setzen.
    Vor seinen Augen spielte sich die gleiche Verwandlung wie am Morgen ab, nur zehnmal, hundertmal stärker.
    Eben hatte er es noch mit einem Menschen zu tun, der Herr seiner selbst war und über einen scharfen Verstand und einen außergewöhnlichen Willen verfügte …
    Ein Mann von Welt und ein Gelehrter, mit äußerst korrektem Benehmen.
    Und plötzlich hatte er nur noch ein Nervenbündel vor sich, eine Marionette an verhedderten Fäden, ein bleiernes, verzerrtes Gesicht, mit Augen, deren Farbe an aufgewühltes Meer denken ließ.
    Er lachte! Aber während des Lachens und seiner ziellosen Bewegungen lauschte er, neigte sich vor, als hätte er unter seinen Füßen ein Geräusch vernommen.
    Nun, unter ihnen lag das Appartement der Mortimers.
    »Das war gut abgekartet!« brachte er mit heiserer Stimme hervor. »Und Sie waren nicht in der Lage, das zunichte zu machen! Nur der Zufall, sage ich Ihnen, oder eine Reihe von Zufällen!«
    Er taumelte an die Wand, lehnte sich schräg dagegen und verzog das Gesicht, weil ihm diese künstliche Trunkenheit, die an eine Vergiftung grenzte, heftige Kopfschmerzen bereiten mußte.
    »Also … Sagen Sie mir doch, solange noch Zeit ist, welcher Pietr ich bin! In Ihrer Sprache ähnelt Pietr dem ›pitr‹, dem Hanswurst, nicht wahr? …«
    Es war zugleich abstoßend und traurig, lächerlich und widerwärtig. Und mit jeder Sekunde nahm diese galoppierende Trunkenheit zu.
    »Komisch, daß sie nicht kommen! … Aber sie werden kommen! … Und dann … Na, raten Sie! … Welcher Pietr? …«
    Plötzlich veränderte er seine Haltung, nahm den Kopf in beide Hände, und sein Gesicht verriet, daß er körperlich litt.
    »Sie werden es nie begreifen … Die Geschichte mit den zwei Pietr … Es ist ungefähr so wie die Geschichte von Kain und Abel … Sie müssen doch katholisch sein … Bei uns ist man Protestant und lebt mit der Bibel … Aber was soll’s! … Ich, ich bin sicher, daß Kain ein zu gutmütiger, vertrauensseliger Junge war … Dieser Abel dagegen …«
    Auf dem Gang hallten Schritte. Die Tür ging auf.
    Maigret war selbst so erregt, daß er seine Pfeife fester zwischen die Zähne klemmen mußte.
    Denn Mortimer trat ein, im Pelz und mit der angeregten Miene eines Mannes, der in Gesellschaft gut zu Abend gegessen hat. Ein leichter Duft nach Likör und Zigarren umschwebte ihn.
    Kaum hatte er das Zimmer betreten, änderte sich sein Ausdruck. Er wurde kreidebleich. Maigret

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