Maigret und Pietr der Lette
decken Sie für mich an seinem Tisch!«
Dem anderen verschlug es den Atem.
»An seinem …? Das geht leider nicht! Der Saal ist fast leer und …«
»Ich habe gesagt, an seinem Tisch!«
Der Geschäftsführer gab sich nicht geschlagen und eilte hinter dem Kommissar her.
»Hören Sie! Er wird sicher einen Skandal heraufbeschwören. Ich kann Ihnen einen Platz anweisen, von dem aus Sie ihn genausogut sehen können.«
»Ich habe gesagt, an seinem Tisch!«
Als er dann in der Halle umherschlenderte, merkte er, daß er müde war. Eine alles durchdringende Mattheit, die seinen ganzen Körper, ja, sein gesamtes Wesen, Körper und Seele, erfaßte, bemächtigte sich seiner.
Er ließ sich in denselben Korbstuhl wie am Morgen fallen. Eine sehr reife Dame und ein überaus gepflegter junger Mann erhoben sich sofort, und während die Frau nervös an ihrem Lorgnon hantierte, sagte sie betont deutlich zu ihrem Partner:
»Diese Grandhotels werden immer unmöglicher! … Nun schau dir das an! …«
›Das‹ war Maigret, der nicht einmal lächelte.
12
Die Jüdin mit dem Revolver
Hallo … Hm … Sind Sie es? …«
»Maigret, ja!« seufzte der Kommissar, der die Stimme von Inspektor Dufour erkannt hatte.
»Psst! … In zwei Worten, Chef … Sie ist zur Toilette gegangen … Handtasche auf ihrem Tisch … Ich bin … Enthält Revolver.«
»Ist sie immer noch da?«
»Sie ißt …«
Dufour zeigte in seiner Telefonzelle sicher die Miene eines Verschwörers und vollführte kabbalistische, erschreckte Gebärden. Maigret legte wortlos auf. Er brachte es nicht über sich, zu antworten. Diese kleinen Verschrobenheiten, die ihn sonst lächeln ließen, bereiteten ihm nahezu Übelkeit.
Der Geschäftsführer hatte nachgegeben und dem Letten gegenüber ein zweites Gedeck auflegen lassen. Pietr, der bereits am Tisch saß, hatte den Oberkellner gefragt:
»Für wen ist dieser Platz bestimmt?«
»Ich weiß es nicht, Monsieur. Ich habe Anweisungen …«
Und er war darüber hinweggegangen. Eine fünfköpfige englische Familie hielt Einzug in den Speisesaal und nahm ihm etwas von seiner Kühle.
Maigret gab seinen Hut und seinen schweren Mantel an der Garderobe ab, durchquerte den Raum, blieb einen Moment stehen, bevor er sich setzte, und machte sogar die Andeutung eines Grußes.
Aber Pietr schien ihn nicht zu sehen. Die vier oder fünf Aperitifs, die er getrunken hatte, waren vergessen. Er war kalt, korrekt und genau in seinen Bewegungen.
Keine Sekunde verriet er die geringste Nervosität, und mit verlorenem Blick erweckte er etwa den Eindruck eines Ingenieurs, der mit einem technischen Problem beschäftigt ist.
Er trank wenig, aber er hatte einen der besten Burgunder der letzten zwanzig Jahre gewählt.
Er aß nur leichte Kost: Kräuteromelett, Kalbsschnitzel, Frischkäse.
Zwischen den einzelnen Gängen wartete er, die Hände auf dem Tisch, ohne Ungeduld und ohne auf das zu achten, was um ihn herum vorging.
Der Speisesaal füllte sich.
»Ihr Schnurrbart löst sich …«, sagte Maigret plötzlich.
Er rührte sich nicht; kurz darauf fuhr er jedoch nachlässig mit zwei Fingern über seine Lippen. Es stimmte, war allerdings kaum wahrzunehmen.
Der Kommissar, dessen Ruhe im Präsidium sprichwörtlich war, hatte einige Mühe, gelassen zu bleiben.
Und er sollte an diesem Nachmittag noch härtere Prüfungen zu bestehen haben.
Sicher, er erwartete nicht, daß der ständig von ihm beobachtete Lette irgendeinen kompromittierenden Schritt wagte.
Aber hatte sich bei ihm nicht am Vormittag der Beginn eines Zusammenbruchs abgezeichnet? Und konnte man nicht hoffen, ihn durch die stete Gegenwart dieser Gestalt, die wie ein Schirm zwischen ihm und dem Licht stand, zum Äußersten zu treiben?
Der Lette nahm den Kaffee in der Halle, ließ sich einen leichten Mantel bringen, schlenderte die Champs-Elysées hinunter und ging dann kurz nach zwei in ein Kino.
Erst um sechs Uhr verließ er es wieder, ohne mit jemandem gesprochen, etwas geschrieben oder die geringste verdächtige. Bewegung gemacht zu haben.
Bequem in seinen Sessel gelehnt, war er aufmerksam der Handlung eines albernen Films gefolgt.
Hätte er sich auf dem Weg zur Place de l’Opéra, wo er einen Aperitif trank, einmal umgedreht, hätte er festgestellt, daß Maigret nervöser geworden war.
Und vielleicht hätte er gespürt, daß der Kommissar unsicherer wurde.
Das stimmte insofern, als Maigret in den letzten Stunden, die er im Dunkeln vor einer Leinwand verbracht hatte,
Weitere Kostenlose Bücher