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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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bemerkte eine Asymmetrie, die schwer zu lokalisieren war, die jedoch seiner Physiognomie etwas Verwirrendes verlieh.
    Man spürte, daß er von draußen kam. In seiner Kleidung haftete noch ein Hauch frischer Luft.
    Das Schauspiel fand auf zwei Seiten zugleich statt. Der Kommissar konnte nicht alles sehen.
    Er beobachtete vor allem den Letten, der nach der ersten Überraschung seine Klarsicht wiederzufinden suchte. Aber dazu war es zu spät. Die Dosis war zu stark. Er fühlte es selbst und nahm verzweifelt seinen ganzen Willen zusammen.
    Sein Gesicht war verzerrt. Er mußte die Menschen und Gegenstände durch einen entstellenden Nebel sehen. Als er den Tisch losließ, machte er einen falschen Schritt, fand aber wie durch ein Wunder sein Gleichgewicht wieder, nachdem er fast umgekippt wäre.
    »Mein lieber Mor…«, begann er.
    Er stieß auf den Blick des Kommissars und sprach mit veränderter Stimme:
    »Schade, wie! … Scha…«
    Die Tür schlug zu. Eilige Schritte entfernten sich. Mortimer hatte den Rückzug angetreten. Im selben Augenblick fiel der Lette in einen Sessel.
    Maigret sprang mit einem Satz zur Tür. Er lauschte kurz, bevor er hinausstürzte.
    Doch unter den vielen Geräuschen im Hotel war es unmöglich, die Schritte des Amerikaners herauszuhören.
    »Ich sage Ihnen, Sie haben es ja gewollt! …« lallte Pietr, der mit schwerer Zunge seine Rede in einer fremden Sprache fortsetzte.
    Der Kommissar schloß die Tür hinter sich zu, ging den Flur entlang und rannte eine Treppe hinunter.
    Er erreichte den Absatz der ersten Etage gerade noch rechtzeitig, um eine davonlaufende Frau zu schnappen. Er nahm Pulvergeruch wahr.
    Mit der linken Hand hielt er die Frau an den Kleidern fest. Mit der Rechten schlug er auf ihr Handgelenk, ein Schuß ging los, ein Revolver fiel zu Boden, und die Kugel zerschmetterte die Glasscheibe eines Aufzugs.
    Die Frau wehrte sich. Sie war außerordentlich kräftig. Der Kommissar fand kein anderes Mittel, sie kampfunfähig zu machen, als ihr das Handgelenk umzudrehen. Sie fiel auf die Knie und zischte:
    »Laß los! …«
    Unruhe kam auf im Hotel. Man hörte einen ungewohnten Lärm, der durch alle Flure und alle Ausgänge hallte.
    Als erstes erschien ein schwarzweiß gekleidetes Zimmermädchen, riß die Arme hoch und wollte entsetzt fliehen.
    »Rühren Sie sich nicht!« befahl Maigret, jedoch nicht dem Mädchen, sondern seiner Gefangenen.
    Alle beide bewegten sich nicht. Das Zimmermädchen wimmerte: »Gnade! … Ich habe nichts getan …«
    Von da an wurde es immer chaotischer. Von allen Seiten strömten die Leute gleichzeitig herbei. Inmitten einer Gruppe gestikulierte der Geschäftsführer. Anderswo sah man Frauen in Abendkleidern, und ein Heidenlärm breitete sich aus.
    Maigret beugte sich hinab, um seiner Gefangenen, die niemand anders als Anna Gorskin war, Handschellen anzulegen. Sie verteidigte sich. Bei dem Kampf zerriß ihr Kleid, so daß sie wie gewöhnlich etwas entblößt war, dabei jedoch mit ihren funkelnden Augen und ihrem trotzigen Mund großartig aussah.
    »Das Zimmer von Mortimer …«, warf der Kommissar dem Geschäftsführer zu.
    Der aber wußte nicht, wo ihm der Kopf stand. Und Maigret war auf sich allein gestellt mitten unter den Leuten, die von Panik erfaßt aneinandergerieten, während die Damen hysterisch schrien, weinten oder zitterten.
    Das Zimmer des Amerikaners lag nur wenige Schritte entfernt. Maigret brauchte die Tür nicht erst zu öffnen, sie stand weit auf. Er sah einen blutenden, jedoch noch lebenden Körper am Boden.
    Daraufhin rannte er in die obere Etage, klopfte an der Tür, die er selbst verschlossen hatte, hörte nichts und sprengte sie auf.
    Das Appartement von Pietr, dem Letten, war leer!
    Die Tasche stand noch immer vor dem Kamin auf der Erde, der Konfektionsanzug lag quer darüber.
    Durch das offene Fenster drang eisige Luft herein. Es führte auf einen Hof, der so breit wie ein Luftschacht war. Unten erkannte man die dunklen Rechtecke von drei Türen.
     
    Maigret stieg schwerfällig wieder hinunter, sah, daß die Leute sich etwas beruhigt hatten. Unter den Gästen hatte sich ein Arzt befunden. Doch die Damen regten sich nicht weiter wegen Mortimer auf, über den sich der Doktor neigte – die Männer übrigens auch nicht!
    Alle Blicke waren auf die im Flur hingesunkene gefesselte Jüdin gerichtet, die mit scharfer Zunge Beleidigungen und Drohungen an die Zuschauer austeilte.
    Ihr Hut war vom Kopf gerutscht. Glänzende Haarsträhnen hingen in

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