Maigret verteidigt sich
Kirchenlicht, aber wenn man ihn auf eine Spur setzte, verfolgte er sie unermüdlich.
»Ich möchte Sie mit einem Auftrag betrauen, Monsieur Barnacle, aber ich zögere noch. Wenn man höheren Orts davon Wind bekommt, könnte es passieren, daß man Sie vorzeitig pensioniert.«
»Dann brauchte ich mich nur drei Monate weniger durch die Straßen zu schleppen.«
Seine Stimme klang nicht vorwurfsvoll. Barnacle war nicht verbittert, grollte niemandem, sicherlich auch nicht seiner Frau.
»Ich werde Ihren Auftrag ausführen, Herr Kommissar.«
»Es handelt sich darum, ein junges Mädchen zu fotografieren. Wo, wann, wie, weiß ich nicht. Das ist Ihre Sache.«
»Ich bin es gewöhnt…«
Das stimmte. Oft hatte man sich Barnacles fotografische Talente und sein jämmerliches Aussehen zunutze gemacht. Wenn man das Foto eines Verdächtigen haben wollte, postierte er sich an einer Stelle, wo dieser wahrscheinlich vorbeikommen würde. Er hängte sich seine Leica um den Hals und spielte den ambulanten Fotografen, wie man ihn immer häufiger auf den Champs-Elysées, auf den großen Boulevards, ja überall in Paris sieht.
Er hatte sich sogar kleine Karten mit fiktivem Namen, fiktiver Adresse und Telefonnummer drucken lassen, die er den Leuten in die Hand schob.
»Sie wohnt am Boulevard de Courcelles und studiert an der Sorbonne. Sie hat eine Freundin am Boulevard Saint-Germain, die Tochter eines Dr. Bouet, dessen Nummer Sie im Telefonbuch finden werden. Im übrigen weiß ich nicht, mit wem sie verkehrt und wo sie ihre Tage verbringt.«
»Besitzt sie einen Wagen?«
»Wenn ja, dann erst seit ganz kurzem, denn sie ist erst achtzehn Jahre alt. Ihr Onkel ist eine bedeutende Persönlichkeit, Berichterstatter im Staatsrat. Wahrscheinlich hat er ein Auto mit Chauffeur. Wenn Sie sich an den Concierge wenden, wird er sich schleunigst mit dem Büro des Polizeipräfekten in Verbindung setzen. Dieser hat strikt verboten, uns mit ihr zu befassen. Sind Sie sich über die Lage klar?«
»Es wird vielleicht ein wenig länger dauern… Können Sie mir sagen, wie sie aussieht?«
Maigret beschrieb ihm Nicole Prieur.
»Bei einem Wetter wie diesem jetzt«, sagte Barnacle wie im Selbstgespräch, »besteht die Möglichkeit, daß sie den Nachmittag nicht zu Hause verbracht hat. Solche Leute essen spät zu Abend… Vielleicht bleibt mir die Zeit…«
An der Tür drehte er sich noch einmal um, und über sein graues Gesicht huschte etwas wie ein Lächeln.
»Falls es Scherereien geben sollte, rühren Sie keinen Finger für mich. Ich habe schon lange Lust, denen einmal zu sagen: ›Scheiße‹.«
Maigret konnte sich nicht genug darüber wundern: Dieses in sein Schicksal ergebene Schaf, das Barnacle immer gewesen war, wurde drei Monate vor seiner Pensionierung zu einem wütenden Schaf. Grinsend fügte Barnacle hinzu:
»Meine Pension können sie mir nicht nehmen. Sie schulden sie mir, verstehen Sie? Es ist mein Geld, denn sie haben es in all den Jahren von meinem Gehalt abgezogen.«
Maigret unterschrieb Schriftstücke, die auf seinem Schreibtisch lagen. Ohne das Foto ließ sich nichts Neues unternehmen. Er kam sich völlig überflüssig vor.
Dennoch öffnete er aus Gewohnheit wie jeden Abend, ehe er die Kriminalpolizei verließ, die Tür zum Büro der Inspektoren. Lucas war da, dessen Haar sich, seit er mit dem Kommissar zusammenarbeitete, stark gelichtet hatte.
»Komm mal einen Augenblick…«
Er wollte ihn nicht informieren. Nicht, weil es der Polizeipräfekt untersagt hatte, denn er hatte ja mit Janvier darüber gesprochen, sondern weil er nicht den Mut hatte, von neuem diese demütigende Geschichte zu erzählen.
»Komm ‘rein! Du kannst dich setzen…«
»Geht es Ihnen nicht gut, Chef?«
»Nicht allzusehr. Aber das macht nichts. Kennst du zufällig jemanden, der an der Sorbonne studiert?«
»Was studiert?«
»Das weiß ich nicht.«
»Es gibt Tausende von Studenten und Studentinnen…«
Lucas blickte auf den Teppich, als dächte er angestrengt nach.
»Ich kenne einen der Pförtner, der mit meiner Frau entfernt verwandt ist, aber es ist eben nur ein Pförtner…«
»Steht ihr gut miteinander?«
»Ich treffe ihn alle drei oder vier Jahre bei einem Familientreffen, einem Begräbnis oder einer Hochzeit.«
»Kannst du ihn anrufen und dich irgendwo mit ihm verabreden? In einem Café zum Beispiel…«
»Ich werde sehen, ob er gerade Dienst hat.«
»Ruf von hier aus an.«
Der entfernte Verwandte von Madame Lucas hieß Oscar Coutant, und
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