Maigret verteidigt sich
sehr zu entschuldigen, daß ich Sie bemüht habe.«
Ein wenig später ließ er sich am Boulevard Saint-Michel auf die Bank eines Taxis fallen und rief dem Chauffeur zu:
»Boulevard Richard-Lenoir!«
»Sehr wohl, Herr Kommissar.«
Vielleicht würde der Polizeipräfekt jetzt auch den Taxichauffeuren verbieten, ihn zu erkennen!
Selten hatte er ein solches Verlangen gespürt, nach Hause zu kommen und die liebevollen, heiteren Augen seiner Frau wiederzusehen.
Fünftes Kapitel
Sie hatte seine Schritte auf der Treppe erkannt und öffnete ihm im geblümten Morgenrock und in Pantoffeln die Tür. Die Wohnung roch nach Bohnerwachs.
»Entschuldige, daß ich nicht angezogen bin. Man hat angerufen, daß du nicht zum Mittagessen kommen würdest. Das wollte ich ausnutzen, um die Fußböden zu bohnern. Was hast du? Hast du Sorgen?«
»Ich habe einen neuen Fall. Den Fall Maigret.«
Er lächelte ein wenig gezwungen, denn es war peinlich, gegen Ende einer Laufbahn seine Chefs zweifeln zu sehen, zumal diesen stolzen jungen Gockel von Polizeipräfekt, der vor Ehrgeiz glühte.
Wenn sich auch seine Empörung vom Morgen gelegt hatte, es blieb dennoch ein bitterer Nachgeschmack, den der Kommissar vor seinen Mitarbeitern zu verbergen versuchte, vor allem Janvier und Lucas gegenüber.
»Es könnte sein, daß wir früher nach Meung-sur-Loire kommen, als wir es glauben…«
»Wovon sprichst du?«
»Von der Geschichte in der letzten Nacht. Jenes Mädchen, das angerufen hat und das ich in der Rue de Seine getroffen habe.«
»Du willst doch nicht sagen, daß man sie tot aufgefunden hat?«
»Sie ist um acht Uhr morgens nach Hause gekommen. Und für mich ist das fast schlimmer. Sie wohnt am Boulevard de Courcelles, und ihr Onkel ist ein hohes Tier…«
»Merkwürdig, ich habe den ganzen Tag über dieses Mädchen und ihre Geschichte nachgedacht. Irgend etwas war mir da nicht geheuer.«
»Sie bezichtigt mich, ich hätte sie in einem Lokal angesprochen, wo sie eingekehrt war, um eine Freundin anzurufen. Ich hätte versucht, sie zu verführen, indem ich ihr versprach, sie würde Zeuge einer Verhaftung sein. Ihre Unschuld ausnutzend, hätte ich sie betrunken gemacht, von Bar zu Bar geschleppt und schließlich, als sie ihrer Sinne nicht mehr mächtig war, in ein Hotelzimmer gebracht, wo ich sie gegen ihren Willen ausgezogen hätte.«
»Wer hat das geglaubt?«
»Alle diese Herren, scheint es, angefangen mit dem Innenminister bis zum Polizeipräfekten und…«
»Hast du gekündigt?«
»Noch nicht.«
»Du wirst dich doch hoffentlich verteidigen?«
»Ich versuche es seit elf Uhr vormittags. Und vielleicht lade ich dich deshalb zum Abendessen in der Stadt ein.«
»Das trifft sich gut. Da ich nicht wußte, wann du zurückkommst, habe ich nur ein kaltes Abendbrot. Was soll ich anziehen?«
»Das Beste, was du hast…«
Wenige Minuten später versuchte er unter der Dusche zu verstehen, was ihm seine Frau sagte. Sie mußten beide sehr laut sprechen.
»Hast du das Mädchen verhört?«
»Man verbietet mir, mich ihr oder ihrer Wohnung zu nähern.«
»Warum hat sie das getan? Hast du eine Ahnung?«
»Noch nicht. Vielleicht wird es mir heute abend aufgehen…«
Sie zogen sich an, wobei sie sich gegenseitig Mut zusprachen. Madame Maigret war nicht erschrocken, und sie hatte als erste das Wort Kündigung ausgesprochen. Keinen Augenblick hatte sie an ihrem Mann gezweifelt und hatte nichts von ihrer guten Stimmung verloren.
»Wohin gehen wir?«
»In ein Restaurant in der Avenue de la Grande Armee, das im ›Michelin‹ zwei Sterne hat.«
Es waren die längsten Tage des Jahres. Die Sonne war noch nicht untergegangen. Überall standen die Fenster offen, um die kühlere Abendluft hereinzulassen. Männer in Hemdsärmeln rauchten ihre Pfeife oder ihre Zigarette und betrachteten die Vorübergehenden. Frauen im Nachthemd riefen sich von einem Fenster zum anderen etwas zu, und aus vielen Wohnungen hallte quäkende Radiomusik. Sie stiegen beide zur Metro hinunter. Kollegen hänselten Maigret deswegen. Er war einer der wenigen am Quai, die keinen Wagen besaßen. Damals, als er noch jung genug gewesen war, um fahren zu lernen, hatte er nicht die Mittel. Jetzt war es zu spät. Freilich hätte Madame Maigret ihn fahren können. Viele Männer lassen sich von ihrer Frau fahren.
»Könntest du dir vorstellen, wie ich im Hundert-Kilometer-Tempo ein Auto steuere? Was für Angst hätte ich, jemandem etwas anzutun, zumal die Verkehrspolizisten
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