Make it count - Gefühlsbeben (German Edition)
dass selbst dann Jareds Gesicht vor meinem inneren Auge auftaucht. Wieso kann ich bei ihm nicht so tough sein, wie bei allen anderen?
„Was führt dich denn nach Oceanside?“
Genau das habe ich befürchtet: Small-Talk. Fragen und Antworten, die keine sind.
„Familie.“
Einsilbige Antworten sind noch immer das beste Mittel, um neugierige Fragen abzuwimmeln. Gut möglich, dass es mir wieder gelingt.
„Hast du Geschwister?“
Eine gute Frage. Meint er Geschwister, die den gleichen Vater und die gleiche Mutter haben? Oder Freunde, die einem so vertraut sind, dass man meinen könnte, sie wären Geschwister?
„Nein.“
Meine Eltern schienen mit mir und Mutters Rosenzucht schon heillos überfordert. Ein weiteres Lebewesen, das ihre Fürsorge gebraucht hätte, wäre keine besonders gute Idee gewesen.
„Du willst nicht darüber reden?“
Ich schüttele den Kopf und kann seinen Blick auf mir spüren, dafür muss ich nicht erst die Augen öffnen. Aber ich tue es dennoch, weil mir sein Anblick fehlt. Er schaut zwischen der Straße und mir hin und her, ein Lächeln auf seinem Gesicht. Sicher, als würde es ihn wirklich interessieren, wie es um meine Familie steht. Betont langsam verschränke ich die Arme vor der Brust und drehe mich in meinem Sitz so, um ihn besser ansehen zu können.
„Willst du denn über deine Familie reden?“
Sofort spannt sich sein Kiefer an. Ich meine sehen zu können, wie sich seine Hände fester um das Lenkrad legen. Mein Blick wandert über sein Gesicht, sein markantes Kinn, das von einem immer dichter werdenden Bartwuchs eingenommen wird. Er starrt vor sich auf die Straße, hält das Lenkrad mit beiden Händen umklammert.
„Touché! Themawechsel.”
Dachte ich es mir doch. Ich soll einen Seelenstriptease hinlegen, ihm die dunkelsten Geheimnisse meines Lebens offenbaren – und er? Er klammert sich an die Kette um seinen Hals und hüllt sich in Schweigen. So wird das Spiel nicht gespielt.
„Okay. Wo kommst du her, Jared?”
Kurz kämpft er mit sich, will auch dieser Frage ausweichen. Aber schließlich entspannt er sich, wenn auch nur geringfügig.
„Colby, Kansas.”
„Geboren und aufgewachsen?”
„Yes, Ma’am.”
Wieder huscht ein Lächeln über seine Lippen, kurz wirft er mir einen Blick zu, als wolle er wissen, was ich davon halte. Leider war ich nur noch nie im Mittleren Westen, schon gar nicht in Kansas.
„Und du? Oceanside?”
Ich nicke. Der Ortsname mag idyllisch klingen. Wie ein Urlaubsparadies für reiche Rentner, die an unseren Stegen ihre Motorboote abstellen und im La Mer die Fischspezialitäten genießen. Von außen betrachtet ist Oceanside genau so ein Ort. Wir haben schöne Häuser, ruhige Straßen, nette Cafés und viel Grün.
„Und du bist nach Boston, weil …?”
„Das College einen guten Ruf hat.”
Eine Lüge. Obwohl ich sie schon oft genug benutzt habe, klingt sie diesmal wie auswendig gelernt. Jared schüttelt den Kopf und konzentriert sich wieder auf die Straße vor uns.
„Genau so habe ich mir dich vorgestellt.”
Na toll, genau das hat er bezwecken wollen. Und er hat gewonnen. Weil es mich tatsächlich interessiert, wie er über mich denkt. Weil es mein Herz schneller schlagen lässt, wenn ich mir vorstelle, dass er sich Gedanken über meine Person gemacht hat.
„Wie bin ich denn?”
Meine Stimme verrät sich durch das leichte Vibrieren. Wenn es ihm aufgefallen ist, ignoriert er es, wofür ich überaus dankbar bin.
„Unnahbar. Verschlossen. Sogar zu denen, die nett zu dir sind.“
Fast will ich widersprechen. Ich schulde ihm eine Erklärung, wieso ich so bin, obwohl er so nett zu mir ist. Und das, ohne eine Gegenleistung verlangt zu haben. Bis jetzt …
„Immerhin kutschiere ich dich über den Highway nach Hause, oder etwa nicht?“
Hinzu kommt, was er gestern Abend für mich getan hat, obwohl er sich damit vor Trevor und Sarah blamiert hat. Er hat seine Ehre für mein Ansehen geopfert. Lernt man so etwas in Colby, Kansas? Sofort zucken Bilder einer etwas jüngeren Version von Jared vor mein inneres Auge: kurze Jeans, verdrecktes T-Shirt, ein Basketball in der Hand, sein freches Grinsen … Was für ein Junge mag er wohl gewesen sein? Auf jeden Fall ist von diesem Jungen nicht mehr viel übrig. Der Mann, der neben mir sitzt, scheint keine Vergangenheit haben zu wollen. Mein Blick wandert über seine Arme zu seinen kräftigen Schultern … Die Nähe seines Körpers zu meinem, die Lässigkeit, mit der er das Lenkrad hält,
Weitere Kostenlose Bücher