Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
neben mir herfährt, sich meiner Geschwindigkeit anzugleichen scheint. Frau Schmidts sitzt am Steuer. Sie starrt stur geradeaus. Dann beschleunigt sie und zieht davon. Zu beiden Seiten säumen Gärten die Straße. Ich höre das Keuchen der Jungs hinter mir. Solange sie mir so dicht auf den Fersen sind, kann ich mich nicht vor ihnen verstecken.
Weiter! Links kommt der Pausenhof der Grundschule in Sichtweite. Ich biege ab. An einer lichten Stelle springe ich durch die Hecke. Die Jungs kleben an mir wie Jagdhunde. Ich renne über den menschenleeren Schulhof, erreiche die Pausenhalle. Die Putzfrauen fluchen, als ich durch ihr frisch Gewischtes renne. Ich schlittere über die nassen Kacheln. Einer meiner Verfolger rutscht aus und reißt den Putzeimer um. Die Putzfrauen werden ihn für mich erledigen. Ich rappel an der Tür zum Gebäude. Verschlossen! Seitenstechen, Atemnot. Weiter geht’s! Ich nehme Kurs auf den Durchgang zu meinem Schulhof. Vielleicht sind meine Kumpel noch da. Schon sehe ich hinter dem dichten Grün die Tischtennisplatte, an der ich mein vielleicht letztes Frühstück mit Bettina hatte. Da reißt es mir die Beine weg, und ich fliege im hohen Bogen in die Hecke. Schon ist Timm über mir. Sein hübsches Gesicht wirkt lädiert mit dem Bluterguss auf der geschwollenen Nase. Sein Kumpel sieht aus meiner liegenden Position so groß aus wie ein Preisboxer auf der Kirmes. Timm packt mich am Kragen, den Arm erhoben, die Faust geballt. Ich schließe ängstlich die Augen, erwarte den Einschlag.
„ Junger Mann!“, ertönt eine Stimme, die ich kenne und fürchte.
Ich öffne die Augen. Timm lässt mich los und stellt sich aufrecht hin.
„ Kommen Sie mal bitte aus der Grünanlage raus. Du auch, Nori!“
Noch nie – und ich würde wetten, auch danach nie wieder – werde ich mich so freuen, Frau Schmidts zu sehen. Wie sie da steht, mit ihrem kamelhaarfarbenen Sommermantel. Unten ragen die dünnen Beine heraus wie bei einem Strichmännchen. Timms Kumpel macht alles richtig. Er rennt wie von allen Höllenhunden gehetzt davon. Ich trete hinter Timm auf den Schulhof. Meinen Schulhof. Mein Territorium. Ich bin ganz voll Laub, schmutzig und außer Atem. Während Frau Schmidts Timm durchkaut und ausspuckt, versuche ich, nicht ganz so zufrieden auszusehen, weil ich mir sicher bin, dass das hier heute noch nicht das Ende der Geschichte ist.
Ich würde gerne erzählen, dass sich nach diesem Ereignis das Verhältnis zu meiner Mathelehrerin drastisch verbessert hat. Dass wir stillschweigend unseren gegenseitigen Respekt kundtaten, indem wir vielsagende Blicke austauschten, wenn sie die Klasse betrat. Scheiße, nein! Wir sind doch hier nicht im scheiß
Club der toten Dichter!
Ich hasse diese Bratze! Aber an diesem Tag hat sie endlich mal ihren verdammten Job gemacht.
Mir zittern noch etwas die Knie, und ich blicke mich öfter um als nötig, als ich meinen Weg ins Dorf mache. Doch dann verdrängt ein neues Gefühl die Angst aus meinem Bewusstsein. Das des Nachhausekommens. Nicht nur die Angst vor Timm und seinen Schlägern verschwindet. Auch die vor dem Wiedersehen. Denn es läuft glimpflich für beide Seiten. Das Dorf und ich, wir erkennen uns auf Anhieb wieder.
Der Ort, an dem du deine Kindheit verbracht hast, ist ein Minenfeld aus Erinnerungen. Es gibt keinen Stein, keine Wurzel, kein gestelltes Bein, über das du nicht schon mal gestolpert bist. Jeder tief hängende Ast hat dir schon mal ins Gesicht geschlagen. Mit ein bisschen Glück hast du eine Nabe davon getragen. Sie ist ein verschworenes Symbol, ein Tattoo, ein geheimes Erkennungszeichen, das dein Zuhause dir mit auf den Weg gegeben hat. Wenn du in den Spiegel blickst, ganz egal, wo auf der Welt du dich gerade aufhältst, und du siehst das Zeichen auf deiner Haut unter dem Auge, bist du vielleicht für einen Moment wieder ein wenig zu Hause. Für einen kurzen Augenblick, in dem dir ein wohliger Schauer über den Rücken läuft und du nicht mal genau verstehst, warum.
Der heiße Asphalt, der in der Sommerhitze zu flimmern scheint. Die mittägliche Stille, die dich umfängt wie ein samtener Vorhang. Essensduft, der aus gekippten Fenstern schwebt. Der blaue, wolkenlose Himmel. Keine Autos fahren. Hier gibt es sie noch, die Mittagsruhe der Seele. Die Vögel – du siehst keinen Einzigen, hörst sie nur – die mit ihrem Gesang in den Hecken und dichten Baumwipfeln ihr Revier markieren.
Du erkennst sogar das Licht, sein Spiel. Weil es an diesem Punkt der Zeit
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