Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
Krücke neben Bettina über die
Rückenlehne. Der Typ ist echt ein Arsch! Ich will sie nicht wecken und rühre
mich nicht. Muss ich auch gar nicht. Martin zieht Bettinas Wange mit dem
Gummifuß nach außen. Über ihre Grimasse muss selbst ich lachen.
Sie öffnet die Augen, schaut mich
verschlafen an und dann verschämt weg. Sie hat Dreck an der Wange.
Wie kann man so was Schönes nur
schmutzig machen, denke ich. Der Typ ist echt ein Arsch!
Wir steigen aus dem Bus und
zerstreuen uns. Ich will allein sein, bin schlecht gelaunt und weiß nicht,
warum. Die Jungs warten auf mich.
„Geht schon“, rufe ich ihnen zu und
tue so, als würde ich etwas in meinem Rucksack suchen. Sie zucken mit den
Schultern und verschwinden. Als ich sicher bin, dass alle fort sind, mache ich
mich auf den Heimweg.
Ein Fahrrad kommt mit quietschenden
Reifen neben mir zum Stehen. Es ist Timm Becker, diese Wurst. Unsere Mütter
sind befreundet. Timm ist zwei oder drei Jahre älter als ich. Er hat blonde
Strähnchen und ist braungebrannt. Seinen Benetton Pullover hat er um die
Schultern geschwungen, die Ärmel vor der Brust verknotet. Er geht zur höheren
Schule und spielt Tennis. Timm ist so eine Art Tarzan – wie der aus TKKG .
Ich wette, er trinkt sein eigenes Sperma. Er sieht mich an wie etwas Ekliges,
das die Katze ins Haus geschleppt hat.
„Na, Nori“, sagt er, und sein
Tonfall ist so unüberhörbar großkotzig, dass ich mich nur mühsam beherrschen
kann, ihm nicht sofort die Fresse zu polieren.
Ruhig, Nori!
„Was gibt’s, Timm?“, frage ich
stattdessen.
„Schönes Sweatshirt“, sagt er.
Ich schaue an mir hinab.
„Danke.“
Ich bin ratlos. Was soll der Mist?
„Würde mir stinken, die alten
Klamotten von anderen Leuten aufzutragen“, erklärt er mir.
„Aha“, sage ich nickend.
Wie er mich angrinst. Plötzlich
erinnere ich mich an die Situation und an das nachhaltige Gefühl der
Erniedrigung. Zeit für eine Korrektur!
Timm lehnt vornüber auf seinem
Lenker und schaut mir stumm zu, wie ich in aller Ruhe meinen Rucksack ablege.
Dann ziehe ich das Sweatshirt über den Kopf und werfe es ihm ins Gesicht. Bevor
er weiß, was los ist, boxe ich ihm mit voller Kraft in die Fresse. Samt Fahrrad
kippt er rückwärts in den Dreck, bleibt liegen und winselt wie ein kleines
Mädchen. Ich sehe, dass das helle Grau des Sweatshirts sich dunkel färbt von
seinem Blut.
In der Zukunft würde man jetzt wohl
noch mal zutreten. Aber nicht hier, nicht heute.
Nicht in den Achtzigern.
„Da hast du es wieder.“ Ich nehme
meinen Rucksack und gehe nach Hause. Das Shirt war eh’ voll mit Affenkacke.
Der Feierabendverkehr rollt durchs
Dorf. Die Kirchturmglocke läutet. Ich betrachte unser Haus von der gegenüberliegenden
Straßenseite. Es ist alt, windschief und ganz wundervoll. Blumenkästen auf den
Fensterbänken. Das dunkelbraune Fachwerkgebälk trägt das alte Gemäuer tapfer
seit vielen Hundert Jahren.
Ich überquere die Straße und drücke
die Klingel. Meine Mutter öffnet mir die Tür. Sie trägt eine Bluse mit gewaltigen
Schulterpolstern und großem Blumenmuster. Es ist schön, sie zu sehen.
Warum ich die Jacke über dem
nackten Oberkörper trage, möchte sie wissen. Ich erzähle von den Pavianen und
lüge, dass ich das schmutzige Sweatshirt weggeworfen habe.
„Das hätte man auch waschen
können!“, motzt sie. „Das hat viel Geld gekostet!“
Gelogen, denke ich. Quitt für
heute.
Sie geht vor und ich folge ihr
durch den Flur in die Küche. Mein Herz tut einen Satz. Mein Vater sitzt am
Küchentisch, wie er es immer tut. Den linken Arm auf der Stuhllehne, den Kopf
zur Seite gewandt schaut er in den Garten. In seinen Garten. Papa ist schlank,
drahtig, und sein volles dunkles Haar ist zu einer Tolle geformt. Lange Koteletten
unterstreichen die Schmalheit seines Gesichts. In der einen Hand die Zigarette,
in der anderen die Kaffeetasse. Er dreht den Kopf, und ich sehe die gleiche
undefinierbare Traurigkeit in seinen Augen wie in meinen.
Nicht flennen, Nori!
„Hallo“, sagt er.
„Hallo“, gebe ich zurück und setze
mich.
Ich würde ihn gern in die Arme
nehmen, aber das ist nicht üblich. Ihn um Verzeihung bitten! Aber er wüsste gar
nicht, wofür. Und dann erwischt mich die ganze Größe dieses Momentes
ausgerechnet durch die Nase. Das heiße Fett, das in der Pfanne brutzelt. Der
frische Kaffee in der Maschine. Die Zigarette meines Vaters, sein Rasierwasser,
sein öliger Blaumann in der ledernen Arbeitstasche
Weitere Kostenlose Bücher