Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
Türe:
„Ja, Liebling?“
„Gehst du für mich zum Reisebüro
und holst Prospekte über London?“
„Gern, Liebling!“ Und weg ist sie
wieder. Josch grinst:
„Seit mein Vater abgehauen ist,
kriege ich alles, was ich will.“
Ich spitze die Lippen und nicke
anerkennend. Josch denkt mit.
Wir sind beide etwas erschöpft vom vielen
Planen. Ein paar Runden Summer Games bringen uns wieder auf Trab. Als
ich beschließe, zu gehen, ist Josch’s Mutter noch nicht zurück. Er bringt die
Prospekte morgen mit zur Schule, sagt er. Josch ist eigentlich schwer in Ordnung.
Trotzdem bin ich froh, dass niemand mich sieht, als ich aus seiner Haustür
trete. Die Kindheit ist ein Minenfeld.
Ich lasse die Beine unter dem
Küchentisch baumeln und schaue durch das Fenster über den Hof in den Garten.
Meine Mutter kommt den Kiesweg am Teich entlang. Sie trägt einen weißen Kittel
und hält ein blaues Plastiksieb in den Händen. Die Hoftür schleift beim Öffnen
über den Boden, wie sie es tut, solange ich denken kann. Sie ist so alt und aus
der Form geraten wie das ganze Haus und vielleicht wie das Leben seiner
Bewohner selbst. Meine Mutter betritt die Küche. Sie geht hinter meinem Rücken
lang und streicht mir beiläufig durchs Haar. Ihre Hände riechen nach Erde.
Polternd lässt sie die Kartoffeln in die Spüle kullern. Ich blättere in meiner
BRAVO, die sie mir vom Einkaufen mitgebracht hat. Ich werte das als Friedensangebot.
Bruce Springsteen ist auf dem Titel. Unvorstellbar. Ich liebe diesen Mann. Er
ist eine der wenigen Konstanten in meinem Leben. Bis heute. Also bis demnächst
eigentlich. Vielleicht ist das hier der Moment, in dem diese Liebe erwachte.
Aber eigentlich ist das ja schon längst geschehen. Oder? Von Zeitreisen wird
einem ganz schummrig, wenn man zu viel drüber nachdenkt. Meine Mutter singt verträumt
einen Schlager mit, der im Radio läuft. Unglaublich. Wir sind in 1985. Ein Jahr
nach Springsteens Meisterwerk Born in the U.S.A singt die ganze Welt den
Refrain von Darlington County . Der Text? Shalalaa Shalalalala .
Bitte aus voller Kehle grölen. Doch in dieser Küche, in diesem Haus, in diesem
Dorf singt man Am weißen Strand von Sant Angelo von G. G. Anderson.
Da muss man ja schräg draufkommen. Wenigstens erklärt mir das, warum ich, wenn
ich richtig betrunken bin, unkontrolliert Textzeilen alter Schlager rezitiere,
die meinem Tagesbewusstsein völlig fremd sind. Aber das liegt noch in weiter
Ferne.
Ich habe Dreck im Haar. Als ich den
Kopf senke, rieselt er in Springsteens grinsendes Gesicht. Das rote Stirnband
und die Jeansweste, die er auf dem Bild trägt, sehen jetzt wirklich nach Arbeiterklasse
aus. Dreckig. Meine Mutter wäscht die Kartoffeln unter fließendem Wasser. Sie
sind so schmutzig wie ihre Hände. Ich nehme die BRAVO und klopfe sie mit der
Kante auf den Tisch, sodass der Dreck hinabfällt. Das Geräusch macht meine
Mutter aufmerksam.
„Was macht du denn da wieder?“
Dieser nörgelnde Tonfall. Sie
greift nach dem Spültuch, mit dem bei uns alles sauber gewischt wird. Mein
Gesicht, wenn mir nach dem Frühstück Marmeladenreste in den Mundwinkeln kleben,
und jetzt der Tisch.
„Du machst nicht viel Gescheites
heute“, sagt sie beiläufig. Das macht mich wütend. Habe ich mir Dreck ins Haar
geschmiert? Ich würde gern den Sender wechseln. Nicht nur den im Radio. Liebe
Hörerrinnen und Hörer, hier ist Radio Muttertier. Wir spielen für Sie rund um
die Uhr immer das gleiche Lied. Viel Vergnügen. Sender und Empfänger. Ich frage
mich, wer von den beiden hier gerade nicht richtig funktioniert?
Der Dreck ist verschwunden.
Vielleicht nur zum Spaß wischt meine Mutter mir mit dem Spültuch durchs Gesicht
und wendet sich kichernd ab.
„Hey!“, protestiere ich. Ich bin
erschrocken und unglaublich angeekelt. Aber meine Mutter hat mich schon ausgeblendet.
Sie singt und schält die Kartoffeln mit dem verträumten Blick eines Teenagers.
Mein Vater lehnt sich über den
Fernseher, um an die Anschlüsse auf der Rückseite des Apparates zu gelangen.
Ich starre auf seinen Hintern und bemerke das kleine rote Schild an der
Gesäßtasche seiner Jeans. Levi’s 501 . Wieso muss ich Jeans von Jingler
tragen? Dieses dämliche Glöckchen.
„Und darum“, höre ich die Stimme
meines Vaters gedämpft hinter dem Fernseher hervorkommen, „wird Betamax sich durchsetzen. So, fertig.“
Er taucht wieder auf, tritt einen
Schritt zurück, neben mich. Wir betrachten den nagelneuen Videorekorder. Er
Weitere Kostenlose Bücher