Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
Mutter die Erde ist, ich
der Mond, ist mein Vater Alpha Centauri. Betrunken. Nüchtern geht er wenigstens
noch als Jupiter durch.
Dann steht er im Türrahmen. Er
bemüht sich um Normalität, aber ich sehe den Schnaps in seinen Augen glühen.
Ich kenne den Ausdruck von mir selbst, und ich mag ihn nicht. Er gibt mir etwas
Durchtriebenes, etwas Unberechenbares. Meinem Vater auch. Was ihn wohl bedrückt,
dass er es zu ertränken versucht? Ich habe ihn nie danach gefragt. Traue ich
mich nicht. Auch jetzt nicht. Da ist eine unsichtbare Barriere, eine Art
Nicht-Angriffspakt zwischen ihm und mir. Oder zwischen ihm und der Welt. Wir
belästigen uns nicht mit Fragen nach dem Wohlbefinden oder mit Zuneigungsbekundungen.
Und? Es läuft gut. Wir streiten nie!
Dann nimmt das eingespielte
Szenario seinen Lauf. Meine Rolle ist klar. Klappe halten und mit dem Essen
spielen. Meine Mutter geht erstmal in die Aufwärmphase. Wo er herkommt, möchte
sie wissen. Vom Friedhof sagt er. Ich bin mir sicher, er lügt nicht. Er war
auch auf dem Friedhof. Die Gräber meiner Großeltern sehen stets einwandfrei
aus. Und auf jedem brennt immer eine Kerze. Davon können andere Tote nur
träumen.
Jetzt kommt die Sache in Fahrt.
Mama wirft das Besteck auf den Tisch, drängelt sich an Papa vorbei aus der
Küche. Er fragt, was denn jetzt schon wieder los ist. Käme glaubwürdiger, wenn
er beim Sprechen nicht lallen würde. Sie heult und brüllt, dass sie das nicht
mehr lange mitmacht. Musste sie ja auch nicht. Nur noch bis Freitag. Der Gedanke
sticht im Bauch.
Mein Vater wird gleich vor dem
Fernseher Platz nehmen und einschlafen. Meine Mutter wird wie eine beleidigte
Katze durch das Haus streifen. Aber noch entlädt sich die ganze Wut über ihr
Leben an ihm. Meine Mama ist hier geboren, in diesem Haus. Sie weiß nicht, wie
es ist, alle Sachen in Kartons zu packen, und woanders von vorn zu beginnen.
Wie es ist, einen Neuanfang zu machen, wo niemand dich kennt. Ohne Geschichte.
Ohne Vergangenheit. Hier im Dorf war und ist sie die Tochter ihres Vaters, dem
Trinker. Obwohl er starb, als Mama noch ein Kind war, geistert er immer noch
von Kneipe zu Kneipe, schwankt durch die Straßen unseres Dorfes wie eine lallende
Legende. Der konnte was wegschlucken, raunen sich die Alten beim Frühschoppen
nach der Sonntagsmesse zu und trinken auf sein Wohl. Es muss schwer sein, zu
vergeben, wenn die Vergangenheit so lebendig ist. Ich möchte keine Parallele
zwischen meinem Großvater und meinem Vater ziehen. Mein Großvater schlug seine
Töchter im Suff halb tot. Das ist ja wohl Unterschied genug. Dieses Schwein!
Niemand verletzt uns mehr als
die, die wir von ganzem Herzen lieben. Hört Ihr? Niemand!
Mitten in der Nacht wache ich auf.
Habe schlecht geträumt. Es ist so still, das ich es nicht ertragen kann. Warum
weiß ich nicht, aber ich ziehe mich nicht mal an, bevor ich aus dem Haus gehe.
Barfuß und im Pyjama durch die menschenleeren Straßen wie ein Gespenst. Die
Nacht ist immer noch warm genug. Ich höre die Gullis rauschen, das stetige
Raunen der Bundesstraße. Wie automatisiert führt mein Weg mich zum Friedhof.
Das schwere Tor quietscht. Ich
spüre keine Angst. Die Dämonen, Vampire und B-Movie-Monster, die mich in meiner
ersten Kindheit mit Anbruch der Dunkelheit verfolgten, unter meinem Bett und in
meinen Schrank lauerten, sind nicht hier. Denn hier wartet Schlimmeres auf
mich.
Das Zentrum des Friedhofs bildet
ein erhöhtes Kreuz. Es ist beleuchtet. Vereinzelt flackern Kerzen auf den
Gräbern. Eigentlich ist dies hier ein ganz wundervoller Ort. Ich lasse das
Kreuz links liegen, beschreite die schmalen Wege, die labyrinthartig zwischen
den Gräbern liegen. Der feine Kies sticht unter den Füßen.
Dann bin ich da. Es ist eines von
vielen. Welke Blumen stehen auf dem Grab. Die kleine Hecke ist sauber gestutzt.
Gräber sind wie Mietwohnungen. Dieses hier ist gemietet von Herrn Kaiser, wie
der bemooste Grabstein verrät. 1902 bis 1972. Ich kenne ihn nicht und er ist
mir egal. Aber in einer Vergangenheit, die jetzt eine Zukunft ist, liegt hier
mein Vater. Mama wird dafür Sorge tragen, dass immer eine Kerze auf seinem Grab
brennt. Und für frische Blumen, die er so liebt.
Es regnet bei seiner Beisetzung.
Ich bin allein, Paul stützt Mama. Es ist meine Tante, die sich ein Herz nimmt,
und dann meine Hand. Ich weine nicht. Der Pastor predigt von einem erfüllten
Leben und der Gnade Gottes. Viele Menschen, die hier sind, habe ich noch nie
gesehen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher