Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
bin wie eine offene Wunde. Aber
ich kann nichts dagegen tun. Ich bin ständig in Alarmbereitschaft. Nichts
entgeht mir. Kein Blick, kein Wort. Die Nächte sind das Schlimmste. Wenn es
ruhig wird. Wenn die Gedanken ungestört kreisen können. Ich erlebe die
Situationen immer wieder. Plane meine grausame Rache. Wieso muss ich anders
sein? Das Fettauge auf der Suppe? Warum ist mir die Anerkennung von Menschen,
die mir nichts bedeuten, so wichtig? Und wenn es mir gelingt, den anderen zu
zeigen, wie besonders ich bin, kommt die Angst. Die Angst, dass sie merken,
dass ich nur eine feige Sau bin. Ein Poser! Ich hasse die Gesellschaft von
Menschen, Doc. Aber ich brauche sie. Wer sollte mir sonst sagen, dass ich toll
bin. Es strengt mich so sehr an, die Fassade aufrechtzuerhalten. Wieso bemerkt
niemand die Bitterkeit in meinen Worten? In meinen Scherzen? All der Schmerz.
Zugegeben, ich habe es perfektioniert. In guten Momenten kann ich fast daran
glauben, dass es vorbei ist. Doch mit der Ruhe der Nacht kommt die Bestie
wieder über mich.
Als ich die Musik entdeckte, war
ich noch zu jung, um die englischen Texte zu verstehen. Heute weiß ich, sie
handeln von Liebe. Der Liebe und ihrer Macht, alle Grenzen zu überwinden. Ihrer
heilenden Kraft. Das ist so kitschig. Pure romantische Verklärung. Aber es
rührt mein Herz, wie es nichts anderes vermag. Die dreieinhalb Minuten, die ein
guter Popsong dauert, lassen mich meine innere Leere vergessen.
Ich will mich doch nur wieder auf
die Schienen stellen und abfahren.“
„Sie sehen die Schuld für Ihre
Ängste bei Ihrer Mutter?“
„Nach dem Unfall meines Vaters war
ich Luft für sie. Sie hat es nie ausgesprochen, aber ich weiß es: Sie gab mir
die Schuld. Verdammt, ich war doch nur ein Kind! Als ich alt genug war, zog ich
in eine Wohnung in der Stadt. Bis zu ihrem Tod haben wir nicht mehr miteinander
gesprochen.“
Als ich nach Hause hinke, schmutzig
und verschwitzt, heule ich nicht. Ich bin zu wütend. In der Küche wartet meine
Mutter mit dem Essen. Wie ein Heimkehrer vom Russland-Feldzug komme ich mir
vor, als ich im Türrahmen stehen bleibe, um ihr Gelegenheit zu geben, mich
anzusehen. Ich weiß nicht genau, welche Reaktion ich erwarte. Häme?
„Du kommst spät“, sagt sie
mechanisch.
Dann schaut sie mich an, und ihre
Augen weiten sich vor Schreck. Sie springt auf und schließt mich ganz fest in
ihre Arme. Ich lasse meine Deckung fallen und heule Rotz und Wasser.
Diese Umarmung war es wert.
Wenn es mir nicht gut geht, lässt
meine Mutter mir immer Badewasser ein. So auch jetzt. Mit ganz viel Schaum,
weil sie das Schaumbad nicht einfach nur ins fließende Wasser gießt, sondern es
mit der Hand verrührt wie mit einem Schneebesen. Fichtenduft. Als ich in der
Wanne liege, meine Wunden lecke, kommt mein Vater von der Arbeit. Obwohl das
Badezimmer am hinteren Ende des Hauses liegt, weit entfernt von der Küche, höre
ich ihn brüllen:
„Niemand schlägt meinen Sohn!“
Wir werden auch später nicht
darüber reden. Ist auch gar nicht nötig. Und da beschließe ich, dass das Leben
meines Vaters mehr wert ist als das Leben Tausender Fremder. Papas Leben und
meines!
Als ich aus dem Bad komme, steht
mein Vater mit einer Tüte unter dem Arm in der Waschküche.
„Ich habe dir was besorgt“, sagt
er, und reicht sie mir.
Ich fische ein in Seidenpapier
geschlagenes Bündel hervor, das ich auf die Waschmaschine lege, und auswickle.
Es ist ein schwarzer Anzug.
„Damit du auf deiner Fete cool
aussiehst. Im Schrank deines Bruders wirst du nichts finden, was dir passt“,
erklärt Papa.
Das Wort „cool“ kommt ihm so eckig
über die Lippen, das ich lachen muss.
„Ich hab dich lieb“, sage ich.
„Ich dich auch“, sagt er.
Später liege ich im
Frotteemorgenmantel auf dem Sofa und schaue Die Goonies . Zusammen mit
meinem Vater, der den Film extra für mich besorgt hat. Er sitzt bei mir, ist
aber nach den ersten Minuten eingeschlafen. Heute hat er das Haus nicht mehr
verlassen – nur wegen mir, bilde ich mir ein. Mama bringt mir zu essen und ich
aale mich wie die Made im Speck unter der Wolldecke, die sie mir überwirft.
Ich kenne den Film nahezu auswendig,
und meine Gedanken schweifen ab. Hin zu dem, was Martin heute sagte. Über
Bettina. Irgendwann bin ich wohl auf dem Sofa eingeschlafen, wie ich es sonst
nur kann, wenn ich betrunken bin.
In dieser Nacht fliege ich. Fliege
mit meinem BMX-Rad vor einem riesig großen Vollmond dahin. In einem Korb
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