Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
der größten Band aller Zeiten die Bühne.
Das Publikum flippt aus.
Paul Young geht zum Mikro und singt
die erste Zeile.
Bei 2 Min. 40 Sek.
beginnt der finale Refrain. In drei Minuten geht die Bombe hoch!
Das Adrenalin strömt durch meinen
Körper. Tunnelblick. Ich bin ein Jäger. Komm schon, Nori! Nimm die Witterung
auf. Du hast das Video Tausende Male gesehen. Du kennst die Bücher, die
Artikel, jede Reportage über Jan van Schewick. Sie sind deine Anti-Bibel, deine
Schlechtenachtgeschichte, dein immerwährendes Halloween. Er ist dein böser
Zwilling.
Ich sehe ihn. Er trägt das gleiche
schwarze Crew T-Shirt wie alle anderen. Als er in die Hocke geht, um ein Kabel
beiseite zu ziehen, ist sein Rücken so gerade, als würde er ein Korsett tragen.
Nur ich weiß, dass es eine Sprengstoffweste ist.
Geh hinaus auf die Bühne und
reiß ihm das Shirt runter!
Der Beat setzt ein. George Michael
singt. Noch 134 Sekunden bis zum großen Knall.
Plötzlich läuft mir ein kalter
Schauer über den Rücken. Lieber Gott im Himmel, ich bitte dich: nicht jetzt! Zu spät. Die Bestie hat mich erwischt. Hat sich von hinten angeschlichen. Sie
schnürt mir die Kehle zu, würgt mich. Ich taumle. Atmen, Nori! Ich spüre
den Blick von siebzigtausend Augenpaaren. Sie blicken tief hinab in meine
Seele. Sie sehen meine Geheimnisse, stehlen meine Sehnsüchte. Ich bin nackt und
schutzlos. Es ist mir unmöglich, hinaus auf die Bühne zu treten. Unmöglich,
eine Warnung auszurufen. Das Bild verschwimmt vor meinen Augen. Mein Blick irrt
umher.
Die erste Reihe der jubelnden Menge
jenseits des Grabens vor der Bühne zoomt heran. Ist das nicht der Dicke? Er
schwingt seine Krücken. Klaus? Er grinst und signalisiert mit erhobenen Daumen,
dass alles super ist. Silvia lächelt mich an, schaut dann schüchtern zur Seite.
Jörg reckt die Faust in die Luft und singt aus voller Kehle. Und Bettina? Sie
spricht zu mir. Ich kann sie nicht hören, lese ihr die Worte von den Lippen ab.
„Du bist ein toller Kerl, Nori!“
Sogar Frau Engler ist da. Sie fegt
den Boden im Rhythmus der Musik. Nach und nach entdecke ich die ganze 8a.
„Was macht ihr hier?“, will ich
ihnen zurufen. Aber die Musik ist so furchtbar laut.
Plötzlich weiß ich es – sie sind
gekommen, um mich zu unterstützen! Aber wo sind meine Eltern?
Eine Ohrfeige wirft meinen Kopf zur
Seite. Erschrocken blicke ich der Bestie ins Gesicht. Sie ist eine
schattenhafte Chimäre. Ihre Klaue drückt mir die Kehle zu. Sie trägt den Kittel
meiner Mutter, die Frisur meines Vaters, und lacht wie mein Bruder. Sie trägt
das Jackett meines Bruders und schaut so traurig wie mein Vater. Sie singt wie
meine Mutter und schweigt wie mein Vater. Sie streicht mir durchs Haar, sie
schlägt mich. Sie lacht mich an, sie lacht mich aus. Sie hält mich fest, sie
wirft mich zu Boden. Sie richtet mich auf, sie lässt mich fallen.
Well, tonight,
thank God it's them, instead of you.
Die Musik findet ihren Weg in mein
Unterbewusstsein. Nur noch 90 Sekunden.
Die Bestie weiß das. Sie nimmt mich
in ihre Arme, wiegt mich wie ein Baby. Sie riecht nach Öl, nach heißem Fett,
nach Zigarette und Parfum. Ich wehre mich, drücke sie von mir weg, aber ihre
Haut klebt an mir und zieht dünne Fäden. Die Fäden geraten in Bewegung und
umschlingen mich wie Tentakeln.
Und da entscheide ich, dass es
genug ist!
Meine Angst wird zu Zorn. Ich
starre der Bestie ins Gesicht. Ihr Grinsen gefriert und taut. Ich rieche Angst,
und es ist nicht meine. Sie will ihre Tentakeln zurückziehen, aber ich habe
tausend Arme. Sie windet sich unter dem stählernen Griff meiner tausend Hände.
Ich weiß es jetzt! Wir sind eins! Komm zu mir!
Here's to you,
raise a glass for everyone.
Noch 49 Sekunden.
Jede Zelle meines Körpers aktiviert
sich. Ich bin eine leere Hülle. Die Natur duldet kein Vakuum. Die Bestie brüllt
und ich lache. Dann absorbiere ich sie. Es beginnt an meinen Händen. Ich verschlinge
ihre Tentakel und ziehe sie dichter an mich ran. Ihr Bauch verschwindet in
meinem Bauch. Ihre Hände wollen sich an meinen Schultern abdrücken, aber sie
versinken einfach in ihnen. Ich sehe mein Spiegelbild in ihren furchtsamen
Augen. Wie zum Abschiedskuss nähern sich unsere Gesichter, berühren sich, und
dann ist sie verschwunden. Ist in mir. Ich bin jetzt der Herr der Angst.
Noch 30 Sekunden!
Ich betrete die Bühne, ohne den
Boden zu berühren. Ich glühe und bin leicht wie eine Feder. Das Publikum empfängt
mich mit lautem Jubel. Ich
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