Mala Vita
Pater Ernesto in Premeno aufsuchen, dann wegen der Sterbeurkunde ins Rathaus gehen und im Anschluss das Gericht in Stresa aufsuchen. Auf die Bank und ins Reisebüro musste er auch noch. An einem Tag würde er das alles nicht bewältigen. Während er gemächlich die Serpentinen in Richtung Premeno nahm, überlegte er, ob er im Haus seines Bruders übernachten sollte. Das letzte Mal hatte er Enrico vor fünfzehn Jahren dort besucht und dann das Haus nach einem Streit mit ihm nie mehr betreten.
Langsam ließ er den Wagen vor der Auffahrt ausrollen. Von hohen Eisengittern und Bruchsteinmauern umgeben, hatte sich die alte, dreistöckige Villa in den letzten Jahren sehr verändert. Zahlreiche Kameras überwachten Grundstück und Haus und registrierten jede Bewegung in der Umgebung. Niemand konnte sich unbemerkt dem Eingang nähern. Grübelnd betrachtete er die riesigen Flügel des schmiedeeisernen Tores, die mittels Fernbedienung bewegt wurden. Enrico hatte das elterliche Anwesen in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Seine Ermordung hatten die modernen Sicherheitsvorkehrungen allerdings nicht verhindern können.
Der Gedanke, dort die Nacht zu verbringen, war Roberto unangenehm. Enricos Festung zu betreten – nein, das kam nicht in Frage. Er würde sich ein Hotelzimmer unten am See suchen und von dort aus Carlo informieren, dass er länger als geplant unterwegs sei. Er startete den Motor und fuhr weiter. In der letzten scharfen Kurve, die kurz vor Ghiffa in die Landstraße am Lago Maggiore mündete, kam ihm der dunkle BMW mit hoher Geschwindigkeit entgegen und verschwand hinter der nächsten Biegung. Nur schemenhaft hatte er die Frauengestalt mit der überdimensionalen Sonnenbrille am Steuer wiedererkannt, die ihm, wie es schien, im Vorbeifahren einen prüfenden Blick zuwarf.
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Omertà, onuri e sangu
A uf d’Aventuras Schreibtisch stapelte sich unerledigter Verwaltungskram, eine Arbeit, die ihn extrem frustrierte. Er hasste Akten, Formblätter und Statistiken, die zu nichts anderem nutze waren, als ihn von seiner eigentlichen Arbeit abzuhalten. Doch nach mehr als zehn Dienstjahren machte ihm weit mehr die Erkenntnis zu schaffen, eine Hydra zu bekämpfen, die nicht zu besiegen war. Das Offenkundige war präsent, lag wie ein düsterer Schatten über der Stadt, und schien doch unlösbar zu sein. Es gab zu wenig Beamte, zu wenig Geld, zu wenig Unterstützung. Die Herren in der Regierung wurden nicht müde, mit populistischen Reden und in theatralischer Einigkeit das organisierte Verbrechen als eiterndes Geschwür zu verurteilen, das mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müsse. Die mangelnde Präsenz des Staates jedoch sprach eine andere Sprache. Nicht einmal die Justiz konnte sich den gebotenen Respekt verschaffen.
Sicher, er konnte viele Erfolge vorweisen. Gleichzeitig waren diese nicht selten mit Enttäuschungen verbunden. Denn oft genug erwiesen sich spektakuläre Verhaftungen als reine Alibifestnahmen der zweiten Garnitur, gelenkt vom Kreis mächtiger Paten und lanciert von höchster politischer Stelle. Opfer waren die Dummen und jene Mafiosi, die man loswerden wollte, weil sie ihrerseits zur Gefahr für die Paten geworden waren.
D’Aventura biss sich mit leerem Blick auf die Unterlippe, bis sie schmerzte. Seine Fäuste öffneten und schlossen sich, als wenn sie jemanden erdrosseln wollten. Es schien, als würde er mit seinem Zorn kämpfen. Die Mafia war längst nicht mehr ein Problem Siziliens, sie nahm in ganz Italien Einfluss. Und nicht nur auf die Medien. Sie war auch verantwortlich für die Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit der Jugend, die wirtschaftliche Schwäche. Ein völlig zerrüttetes Gesundheitssystem stank zum Himmel wie eine eiternde Wunde.
»Wahrlich«, murmelte d’Aventura, »es ist eine Schande!« Italiens Sondereinheiten zur Mafiabekämpfung verfügten über erstklassig ausgebildete Spezialbeamte, aber an deren Spitze saß ein Technokrat, von dem niemand wusste, was ihn zu dieser Stellung befähigte und weshalb ausgerechnet er für die Führung ausgewählt worden war. Den besten Beweis für seine Unfähigkeit hatte Minetti mit der Fahndungsanordnung in Caltabellotta und der Genehmigung des Fernsehinterviews geliefert.
D’Aventura schloss die Fenster und schaltete den Deckenventilator über dem Schreibtisch ein. Der setzte sich schnurrend in Bewegung und befächelte ihn sanft. Der Comandante ließ sich in den Polstersessel fallen und dimmte seine Schreibtischleuchte ein
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