Malavita: Eine Mafia-Komödie (German Edition)
und Leute zu einem Gläschen einladen, die ihm nützlich sein konnten. Er schaltete den Computer aus, gab ihm wie einem alten Freund einen Klaps und verließ sein Zimmer. Der erste Teil seiner Reise dürfte schwierig werden. Er musste sich in den Garten schleichen, dabei geschickt die Veranda umgehen, vom Geräteschuppen aus sich zwischen zwei Blechplatten hindurchzwängen, den Drahtzahn ein bisschen hochziehen, um dann darunter durchzukriechen. Beim Nachbarn angekommen, musste er über dessen Gartenzaun klettern und dann den Weg zum Bahnhof einschlagen. Von da an war er ein Outlaw, und es würde sich dann bald erweisen, ob er das Zeug dazu hatte.
Im Gang begegnete er völlig unerwartet seiner Schwester, die sich wie er auf Zehenspitzen davonschleichen wollte. Belles Fluchtplan verlangte ähnlich akrobatische Fähigkeiten wie der ihres Bruders. Sie wollte vom Kellerfenster in der Waschküche aus in den Garten gelangen, dort auf den Holzstapel steigen, der vor der Trennwand zum Nachbargrundstück aufgebaut war; von dem wollte sie zum Nachbarn springen und das fremde Grundstück so unauffällig wie möglich verlassen. Belle war zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, um von Warrens Aufregung etwas mitzubekommen. Und genauso wenig konnte er die seltsame Feierlichkeit im Gesicht seiner Schwester deuten.
»Wo gehst du hin?«, fragte er als Erster.
»Nirgends. Und du?«
Warren würde Belle viele Jahre nicht mehr sehen. Eines Tages würde er sie aber holen kommen, ihr Hollywood auf dem Silbertablett servieren und ihr die Welt zu Füßen legen. Er biss die Zähne zusammen und unterdrückte seine Tränen. Belle nahm ihn in die Arme – schließlich wollte sie ihm als liebevolle Schwester in Erinnerung bleiben. Warrens Herz pochte. Er küsste sie sanft auf beide Wangen und merkte, dass ihm eigentlich niemand sonst auf der Welt so nah war.
»Ich liebe dich wirklich, Belle.«
»Eines musst du wissen. Ich werde immer stolz auf dich sein, egal, wo ich bin. Vergiss das nicht.«
Und sie umarmten sich ein weiteres Mal.
Im Erdgeschoss hatte Fred, verbarrikadiert auf seiner Veranda, nicht die leiseste Ahnung von diesem Ausbruch geschwisterlicher Liebe. Wegen eines kleinen Blackouts kam er in dem Kapitel, in dem es um die Initiationsriten der »ehrenwerten Gesellschaft« ging, nicht voran. Bevor man als neues Mitglied aufgenommen wurde, musste jeder Neue einer Zeremonie beiwohnen, bei der die Alten den Vorsitz hatten; das Ritual hatte sich seit Jahrhunderten nicht geändert. Man pikste den Zeigefinger des Neuen mit einer Nadel, bis ein Tropfen Blut herausrann. Dann legte man in seine Hand ein Heiligenbildchen, das angezündet wurde. Dazu musste er sagen: Ich schwöre , wenn ich meinen Eid breche, dann möge ich wie dieses Bild verbrennen und … Fred wusste nicht mehr, wie der Satz weiterging. Wie oft hatte er diesen Eid gehört, nachdem er ihn selbst vor dreißig Jahren geleistet hatte? Wie ging der Satz noch mal? … dann möge ich wie dieses Bild verbrennen und … Und was, zum Teufel! Der Satz ging doch weiter. Er konnte sich diese plötzliche Vergesslichkeit, während es aus ihm literarisch nur so herausbrodelte, nicht erklären. Dann hatte er auf einmal eine Vision. Er sah sich selbst verbrennen wie ein Heiligenbildchen.
Mehrmals rief er vergeblich nach seiner Frau, dann begann er sie im ganzen Haus zu suchen. Als er sie nicht auf dem Sofa sitzen sah, das sie schon seit Tagen nicht verlassen hatte, schwante ihm nichts Gutes. Er durchforstete Zimmer um Zimmer, auch die im ersten Stock. Dort begegnete er seinen Kindern, bemerkte aber gar nicht, dass die sich in den Armen lagen und Rotz und Wasser heulten.
»Habt ihr eure Mutter gesehen?«
Beide schüttelten den Kopf. Fred raste in die Waschküche, umkreiste die schlafende Hündin und rannte wieder nach oben ins Wohnzimmer.
» MAAAGGIIIE !!!«
Hatte sie sich Quintilianis Ausgehverbot widersetzt? Undenkbar. Sie würde eher sterben, als neue Sanktionen zu riskieren. Was also war passiert?
Es musste eine Erklärung geben. Wenn auch vielleicht eine schreckliche.
*
Keine zwei Kilometer vor Cholong fuhr der Kleinbus in den Wald von Beaufort und parkte am Ufer der Avre. Die Männer stiegen aus und vertraten sich die Beine, konzentriert und ohne ein Wort zu sagen. Der Fahrer gähnte laut, er war müde, dann ging er zum Ufer, um zu pinkeln. Sein Beifahrer, der auch als Dolmetscher fungierte, stellte große Plastiksäcke auf den Boden. Darin befand sich zur freien
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