Malefizkrott
Tischmanieren erzogen. Und anders als Ben hatten wir Mädchen im Realgymnasium auch keinen Englischlehrer gehabt, der uns mit The Guardians {9} zu der Erkenntnis erzog, dass nicht das Leben und seine Ereignisse, sondern die Haltung dazu unser Glück entschied. Die guten Sachen machen immer nur die Männer, auch in der Literatur. Und ich. Aber mit einem erschossenen Buchhändler mochte ich Sallys Nudelsalat und Sekt auch nicht aufmischen.
Gegen elf Uhr hatte sich meine Unruhe zur Panik ausgewachsen. Morgen Abend hatte ich meine erste Lesung mit Lola Schrader in meiner Rolle als Bodyguard, und ich war in keiner Weise darauf vorbereitet. Weder darauf, dass jemand Feuer legte, noch darauf, dass sie erschossen wurde. An meinen Fingern klebte noch die Berührung von Durs Ursprungs gut rasierten weichen Wangen. Mit Klapsen hatte ich einen Toten wecken wollen, voll sinnloser Ungeduld. Viel zu nah war ich ihm dabei gekommen, dem alten Trüffelschwein. Indiskret kam ich mir auf einmal vor. Wieder mal hatte ich zu viel gesehen: Brusthaar, das sich viril über Ursprungs obersten Hemdknopf kringelte, das Altherrenlächeln beim Anblick der überaus entzückenden, weil jungen Verkäuferin, das kindliche Staunen in seinen Augen, als die Kugel sein Herz durchbohrte. Hatte er’s begriffen und sich gewundert? Das ist jetzt das Ende, und ich denke an das Loch in meiner linken Socke, das mich seit heute früh stört, das ist mein letzter Gedanke. Ein Gedanke, den zu erinnern er keine Gelegenheit mehr haben würde, weil er nicht mehr aufwachte, um ihn ins Bewusstsein zurückzuholen. Wohin entschwindet das Ich mitsamt seinem letzten Gedanken, wenn das Bewusstsein für immer zusammenbricht?
Ich war davongelaufen, um Schokolade zu kaufen, weil Sallys Geburtstag wichtiger war als eine Zeugenaussage. Freundinnenstress! Und ich hatte bisher keinen ernsthaften Gedanken daran verschwendet, wie ich Lola Schrader schützen wollte, falls der Helfer und Durs Ursprungs Mörder ein und dieselbe Person waren und falls folglich zwischen den Drohbriefen an Lola, dem Brand in der Buchhandlung und Durs Ursprungs Tod ein Zusammenhang bestand. Falls!
Mit einer fadenscheinigen Ausrede, die ich Sally morgen würde erklären müssen, machte ich mich davon. Es war eine tropische Sommernacht. Der Weg an der Friedenskirche vorbei und hinunter in die Neckarstraße ernüchterte mich. Ich verwarf die Idee, Schraders Auftrag gleich morgen an irgendeinen Sicherheitsdienst abzutreten. Auch wenn Ursprungs Tod alle Fragen offen ließ, so hatte er sicher nichts mit den ersten literarischen Versuchen einer Siebzehnjährigen zu tun, deren Vater sie für eine Lena des Literaturbetriebs hielt und Stalker abweh ren zu müssen meinte, bevor sie auftauchten.
Ich setzte mich ans Netz. Eine Nachricht von Wagner wartete auf mich. Demnach stammten die Drohbriefe von einem Postkasten, von dem man Mails versenden konnte, ohne irgendwelche privaten Daten anzugeben. »Jeder Schmalspur-User«, schrieb Wagner, »kann das. Er muss nur ein bisschen googeln.« Der Postkasten gehörte der German Privacy Foundation, einem Verein, der selbst keine Nutzerdaten speicherte und anonyme Bewegungen im Netz förderte. Sein Webinterface bot die Möglichkeit, eine E-Mail über das Mixmaster Remailer-Netzwerk zu versenden. Das bedeutete, die Kopf- und Absenderzeilen des Senders wurden gelöscht, die Nachricht wurde zerstückelt, in Teilen über ein halbes Dutzend zufällig ausgewählter Rechner rund um die Welt verschickt und schließlich wieder zusammengemixt und unter irgendwelchen Fantasienamen zugestellt. Das konnte ein paar Stunden dauern und manchmal kamen die Nachrichten mehrfach an. Das war bei den beiden Drohbriefen »Bücher brennen hell Luder« und »Der Tot wartet auf dich Buchhasser« der Fall gewesen. Die IP-Adresse des Computers, an dem die Mails ins Formular der GPF getippt worden waren, war praktisch nicht mehr zu ermitteln.
Wagner hatte außerdem einen Link auf das Wort »Buchhasser« gesetzt, der mich zu einem Server weiterleitete, der ein Passwort forderte. Wir hatten es nie verabredet, aber es war ausgemacht, dass ich auf Daten, die Wagner für mich irgendwo ablegte, mit einem meiner drei Passwörter, die Wagner auf meinem Computer ausspioniert hatte, zugreifen konnte. Offenbar hatte der Schlawiner die Festplatten beider Schraders abgesaugt und mir zur umfangreichen Recherche hinterlegt.
Es öffnete sich mir eine Worddatei, die Wagner für bemerkenswert gehalten hatte. Ich las:
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