Malefizkrott
Licht. Die Küche war noch partyverwüstet. Das kleine Wohnzimmer hatten Sally und ihre Gäste notdürftig aufgeräumt. Ich drückte die Klinke zu ihrem Schlafzimmer hinunter. Alles hatte ich erwartet, nur das nicht: Die Nachttischlampe beleuchtete ein rosafarbenes Laken, eine zurückgeworfene Bettdecke mit Katzenmotiven, den flauschigen weißen Teppich, den Schrank, die Tapete mit den Katzen- und Hundefotos an der Dachschräge und die Nachttischfläche mit Nagelschere, Nagellack, einer Kleenex-Schachtel, Haargummis, einer Bürste und einem Buch, aber keine Viecher.
Cipións Schnüffelnase blieb auch vollständig desinteressiert. Ich beugte mich übers Bett, konnte aber keine schwarzen Punkte entdecken. Hm. Wie viel hatte Sally eigentlich getrunken? Ich kehrte zurück vor die Tür.
»Und?«, fragte Sally angstvoll.
»Also, ehrlich gesagt … aber vielleicht habe ich Tomaten auf den Augen.«
»Aber sie waren da! Ich schwör’s. So viel habe ich nicht getrunken, nur vier Gläser Sekt und … ach was! Hast du auch wirklich genau hingeguckt?«
Wenn man genau hingucken musste, konnte es zumindest keine Invasion gewesen sein. »Vielleicht könntest du mir mal zeigen, wo genau sie waren, Sally. Keine Angst. Ich bin bei dir.«
Sally erhob sich vom Treppenabsatz, schüttelte ihre langen blonden Locken zurecht und straffte die Schultern. Senta maulte. Gemeinsam zogen wir in die Wohnung ein. Sally hielt sich hinter mir. Über meine Schulter hinweg schaute sie in ihr Schlafzimmer. Was sie sah, beruhigte sie keineswegs. »Wo sind die jetzt hin? Glaub mir, sie waren da. Da kann ich nie wieder schlafen!«
Ich hob das Kopfkissen an. Eine schwarze Versammlung darunter hätte mich durchaus beruhigt. Dann hätte man den Staubsauger holen können. Aber: »Hier ist nichts, Sally. Gar nichts. Wo sind sie denn hergekommen?«
»Da!« Sally streckte Finger und Arm Richtung Nachttisch.
»Wo genau?«
»Da, da!«
Ich ging in die Hocke und besichtigte das Ensemble im Licht der kleinen Lampe. »Ha! Da ist was!«
An der Tür hinter mir hörte ich Sally schlottern.
In der Tat, übers Furnier krabbelten langsam zwei schwarze Punkte, und noch einer. Ich nahm meine Lupe und besichtigte sie. »Flügel haben sie schon mal keine. Sehen aus wie Läuse.« Und dann entdeckte ich es: »Sie kommen aus dem Buch! Da ist noch eine.«
»Brr!« Sally schüttelte sich vor Ekel. »Niiiicht!«, schrie sie, als ich meine Hand nach dem Buch ausstreck te. »Nicht anfassen! Wer weiß, was das ist? Sie können Krankheiten übertragen!«
Ich zog unwillkürlich meine Finger wieder zurück. Panik steckt an. Schon juckte es mich überall.
Das Buch lag auf dem Gesicht, deshalb konnte ich den Titel nicht sehen. Aber seiner munteren Farbigkeit nach stammte es aus den fünfziger oder sechziger Jahren. »Was ist das?«
»Melanie hat es mir doch zum Geburtstag geschenkt. Hanni und Nanni. Sie hat es bei ebay gebraucht ersteigert.« Sally schluckte krampfhaft. »Lisa, bitte! Was soll ich jetzt machen? Wo soll ich denn hin? Nein, nicht anfassen, Lisa! Tu das nicht! Wer weiß, wo das vorher herumgelegen hat!«
Sally arbeitete nicht nur im SWR als Assistentin in ei ner aktuellen Redaktion und als Kellnerin im Tauben Spitz, an einem Tag der Woche war sie zudem als Sprechstundenhilfe tätig, beteiligte sich alle Vierteljahr am Abrechnungsbetrug ihres Chefs und kannte Infektionsquellen und Krankheitsverläufe, bei denen ich das kalte Grausen bekam.
»Aber irgendwie muss das Buch von hier weg«, erklärte ich. »Oder willst du die Wohnung aufgeben?«
Sally schüttelte den Kopf. »Dann nimm wenigstens Handschuhe, ja? Ich habe welche in der Küche.«
Gute Idee. Es gelang mir, Sally in ihre Küche zu schleusen, wo sie sich am Fenster eine Zigarette anzündete. Ich kehrte mit Chirurgenhandschuhen in ihr Schlaf zimmer zurück, nahm das Buch und begab mich ins Ba dezimmer, um es bei hellstem Licht über der Badewanne zu untersuchen. Cipión verfolgte meine Umtriebe mit nussbraunem Staunen in den Augen, die Haarbüschel in seiner Stirn zitterten, seine Ohren gingen vor und zurück. Dass man Bücher totschütteln musste, bevor man sie verzehrte, war ihm neu. Zumal Bücher ja bereits tot waren. Erklär ihm das mal einer!
Über der Badewanne entfaltete ich das Buch und schüttelte es ein bisschen. Papierstaub rieselte und verkrümelte sich in der Luft. Das Papier war rau und roch säuerlich, hier und da war es leicht angewellt, als wäre es einmal feucht geworden. Schwarze
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