Malefizkrott
man dir tut, das tu auch keinem andern an. Ich finde, das sagt alles. Der kategorische Imperativ!«
»Ist Malefizkrott auch ein kategorischer Imperativ?«
Sie lachte, verstummte und lachte dann noch mal, frei, offen und vergnügt. »Sorry, ich rede zu viel, ich weiß. Die reine Unsicherheit. Da sind Sie dran schuld. Sie verunsichern mich.«
»He, gib nicht so an!« Als Unterschichtkind lehnte ich es rundheraus ab, zu akzeptieren, dass Bürgertöchter sich unsicher fühlten. Mochte sein, dass sie ihre Selbstwertkrisen hatten, aber Grund dazu hatten sie nicht.
»Ich wollte gar nicht angeben. Wirklich nicht!«, antwortete sie ernsthaft, als sei ihr die Ironie meiner Entgegnung entgangen. »Im Grunde ist es völlig unwichtig, ob irgendein Philosoph für irgendeine Banalität irgendwelche Begriffe findet. Es schadet sogar mehr, als es nützt. Nimm nur … äh nehmen Sie die Bibel oder den Koran oder Das Kapital . Wenn man sich überlegt, was solche Bücher bereits für Unheil angerichtet haben, wär’s wirklich besser, die Menschheit hätte nie schreiben gelernt.«
»Na!«
»Doch! Ich frage mich oft, sehr oft, wie die Welt wohl aussähe, wenn es keinen Marx gäbe, keinen Engels, keinen Mao, keinen Jesus. Die Menschen hätte es gegeben, das ja, aber diese Bücher nicht. Wir müssten uns heute nicht mit Christentum, Kommunismus oder Islam herumschlagen, all die Millionen von Menschen wären nicht gestorben, die im Namen der Bibel oder des Koran oder des Kommunismus umgebracht worden sind.«
»Oder weil Männer gerne Kriege führen und töten und ihnen dafür jede Weltanschauung gerade recht kommt.«
»Ich habe da eine andere Theorie. Nehmen wir Marx und Engels. Die hatten vor hundert Jahren absolut recht. Kinderarbeit, Verelendung des Proletariats und so. Aber inzwischen ist das geregelt …«
»Bei uns vielleicht, aber nicht in Bangladesch, wo dei ne Jeans genäht werden.«
»Mag sein. Ich kenne mich mit dem Marxismus nicht so aus. Meine Theorie ist folgende: Alles, was man aufschreibt, dient letztlich der Bewahrung. Nicht wahr? Alle künftigen Generationen sollen ebenfalls daran glauben. Wenn nicht, werden sie totgeschlagen oder ausgestoßen. An die Bibel glauben wir jetzt seit zweitausend Jahren. Das muss man sich mal vorstellen.
Die Regeln für Wüstennomaden sollen für uns gelten, bei den Juden und Moslems ist das ja noch viel extremer mit all den Essensregeln. Deshalb meine ich: Alles, was aufgeschrieben wird, bremst unsere geistige und kulturel le Weiterentwicklung. Auch die soziale – dass in der katholischen Kirche immer noch keine Frauen Priesterinnen werden können, zum Beispiel. Bücher verhindern neue Ideen, weil sie das Alte hochhalten. Mit Marx verhindern wir die Erderwärmung nicht und mit der Bibel nicht die Überbevölkerung. Das ist das Gefährliche an Büchern, und niemand merkt es.«
Ich war kurz sprachlos. »Wo hast du das her?«
»Bitte?« Lola zog die Brauen hoch.
Nein, das Mädchen plapperte nicht nach, es dachte selbst. Tschuldigung. Wo sie den Buchhasser herhatte, war auch gar nicht die Frage. Das wurde mir schlagartig klar, als mein Navi »Links halten!« sagte und sich die Schnellstraße in Richtung Tübingen bündelte.
»Ich will wissen, wo du diese Theorie herhast, Lola!«
»Wird das hier ein Verhör oder was?«
»Dein Vater hat mir erzählt, dass dir jemand ans Leder will. Demzufolge sollte ich herausfinden, wer es ist, be vor er es schafft. Kling das logisch für deine Ohren?«
Ein Flugzeug löste sich vom Flughafen und donnerte in die Höhe in irgendeinen Urlaub.
»Das klingt logisch.«
»Und jetzt erzählst du mir, dass Bücher mehr schaden als nützen. Sehr komisch angesichts dessen, dass du gerade selbst eines geschrieben hast, aber …«
»Das ist nur eine unbedeutende Eintagsfliege, um die sich niemand kümmert. Ich wollte damit gerade zeigen, dass …«
»Das ist jetzt nicht das Thema, Lola. Einer der Drohbriefe ist mit ›Buchhasser‹ unterschrieben.« Ich schaute zu ihr hinüber.
Sie schaute zurück. Sie hob das Kinn, machte schmale Augen, prüfte. »Okay«, sagte sie dann. »Die Drohbriefe sind von mir. Ich gebe es zu. Das heißt, eigentlich sind sie von Nino. War ein Fehler. Ich hätte ihn daran hindern müssen. Aber ich fand es erst ganz lustig, wie Pappo sich echauffiert hat.«
Ich schluckte trocken. »Und wozu das Ganze?«
»Eigentlich hat Nino nur was ausprobieren wollen. Er hatte einen Weg entdeckt, wirklich anonyme Mails zu schreiben. Damit
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