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Malefizkrott

Malefizkrott

Titel: Malefizkrott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Streit.«
    »Wie bitte?«
    »Ja, denn ich äußerte meine Absicht, nach meiner Rückkunft in Tübingen der Polizei unverzüglich dies alles zu Protokoll geben. Und«, Richard lächelte verzwickt, »natürlich auch das Buch zu zeigen. Das aber wollte Marie auf keinen Fall. Bloß nicht. Sie habe es aus Daffke hergestellt. Nur so, um zu lernen, wie das geht. Und sie habe einfach noch was eingebunden, eben diese Texte, damit das Buch auch was Eigenes von ihr enthal te. Die Macht des Buchbinders auskosten, gewissermaßen. Das sei ihr Buch, ein ganz privates Buch. Warum sie es dann bei Ursprung in Stuttgart deponiert habe, fragte ich sie. Sie bestritt das vehement. Das Buch sei ihr abhandengekommen. Unter welchen Umständen konnte oder wollte sie nicht sagen. Diesen Ursprung kenne sie gar nicht. Warum sie nicht mit mir Kontakt aufgenommen habe, wollte ich wissen. Sie habe doch meinen Zettel vom Schwarzen Brett gerissen. Ach, der sei von mir gewesen? Was ich denn damit bezweckt hätte. Ob ich ihr hinterherspioniert hätte.«
    »Hui!«
    »Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, den Eindruck zu verwischen, ich sei ihr wochenlang gefolgt, obgleich es genau so war. Und dass es nicht geschehen war, weil ich ihr wegen des Buchs Schwierigkeiten machen wollte, sondern, weil ich mich in sie … verliebt hatte, hätte in diesem Stadium des Streits alles nur noch schlimmer gemacht. Sie wollte mich loswerden, und dazu war jedes Argument recht. Als ich damit anfing, wir hätten die Pflicht, vor der Polizei auszusagen, dass wir gesehen hatten, wie der Polizist in Zivil erst auf mich und dann auf den Mann im roten Hemd geschossen hatte – dass er Benno Ohnesorg hieß, wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht –, wurde sie vollends hysterisch.«
    »So! Hat es nicht geschmeckt?«, fragte Sally.
    Wir fuhren hoch und schauten sie so viereckig an, wie man nach dem Kinobesuch in die dreidimensionale Welt blickt.
    »Doch, doch«, murmelte Richard. »Ich hatte nur kei nen richtigen Hunger.«
    »Sehr gut«, rief ich umso lauter. »Und bringst du mir noch ein Pils? Und … äh … einen Kirsch.«
    »Und Kaffee für mich«, sagte Richard.
    »Sehr wohl, die Herrschaften.« Sally ging.
    »Sie hatte der Polizei versprochen, nicht als Zeugin auszusagen, nicht wahr?«
    Richard nickte. »Das steht zu vermuten.«
    »Und du?«
    »Ich habe der Polizei nichts versprochen. Aber ihr ha be ich es versprechen müssen. Um sie zu beruhigen. ›Gegen die richten wir doch nichts aus!‹, sagte sie immer wieder. ›Die halten alle zusammen. Am Ende sind wir die Verbrecher, weil wir an einer ungenehmigten Demonstration teilgenommen haben.‹ Sie hatte richtig Angst. Davor, dass ihr Vater ihr die Unterstützung streicht, noch mehr aber vor seinem Spott, sie hätte sich selbst ihre Zukunft als Journalistin verbaut.«
    Ich grunzte.
    »Ich war zwiegespalten. Einerseits habe ich Maries Ängste verstanden, andererseits war ich, gelinde gesagt, enttäuscht über einen solchen Mangel an persönlichem Mut. In der anonymen Masse demonstrieren und Farb beutel werfen, aber wenn es darum ging, selbst einzustehen und für Gerechtigkeit zu sorgen, dann kneifen. Solche Angst vor dem Triumph eines Vaters, vor dem Verlust von finanzieller Unterstützung? Im Grunde vor kleinen Unbequemlichkeiten. Ich bekam kein Geld von zu Hause und studierte auch. Natürlich war es anstrengend, aber – wie man damals sagte – Arbeit hat noch keinem geschadet. Nie werde ich den Blick vergessen, mit dem sie mich musterte: mitleidig, verächtlich, angewidert. Wir haben bis zur Landung in Stuttgart kein Wort gesprochen. Auf dem Flughafen sind wir auseinandergegangen und jeder für sich, vermutlich im selben Zug, nach Tübingen zurückgefahren.«
    »Aber sie hat dir das Buch gelassen?«
    »Ich glaube, sie hat nicht daran gedacht, es von mir zurückzufordern, oder erst, als wir uns schon getrennt hatten.«
    Ich schnaubte: »Undankbare Schnepfe!«
    »Als im November der Prozess gegen den Schützen begann, befand sie sich schon nicht mehr in Tübingen, nicht einmal mehr in Deutschland.«
    »Und du bist nicht zur Polizei gegangen?«
    »Es haben über achtzig Zeugen beim Prozess ausgesagt, etliche, die genau beschreiben konnten, was sich ereignet hatte. Und ich hatte den Schuss auf Ohnesorg nicht mit eigenen Augen gesehen. Selbst wenn ich meine Beobachtungen zu Protokoll gegeben hätte, hätte man mich kaum aus Tübingen nach Berlin eingeflogen. Zur eigentlichen Tat konnte ich nicht mehr sagen als viele

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