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Malefizkrott

Malefizkrott

Titel: Malefizkrott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Platzen gebracht hatte. Ich weiß noch, dass er auch mir plötzlich ins Gesicht sah! Seine Lippen bewegten sich. »Einen von euch Hunden mache ich kalt heute!«, sah ich ihn sagen, hören konnte ich ihn nicht. Glaub mir, ich war erbittert genug, um diesen Hansel bloßzustellen und dem Zorn der Demonstranten auszuliefern, aber meine Aufgabe war eine andere. Marie hatte mich nicht mitgenommen, damit ich mich in die Schlacht warf, sondern damit ich sie davor bewahrte. Ich vertrat die Stelle ihrer Freundin, meine Pflicht war es , ängstlicher zu sein als Marie, um sie rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Sie wollte unverletzt und unbehelligt nach Hause kommen. Ihren Eltern hatte sie vorgeschwindelt, sie sei bei einer Freundin in München, wegen einiger Bücher, die es nur in der Bayerischen Staatsbibliothek gebe. Und deshalb zog ich Marie weg.«
    »War Wolfi auch da?«
    »Ich habe ihn zwei- oder dreimal gesehen. Er war bei denen, die die Parolen initiierten und die Farbbeutel war fen. Marie und ich, wir zogen uns in einen Hinterhof einige hundert Meter vom Getümmel entfernt zurück. Da war schon einer mit Schnauzbart in rotem Hemd und Sandalen. Bald drängten andere herein, draußen Blaulicht, Sirenen. Polizisten kamen von der Straße herbei. Einer von uns warf einen Schirm nach einem Polizisten, der fing ihn auf und prügelte damit los. Sofort waren überall Gummiknüppel, ›Immer feste druff!‹ {13} . Marie und ich wichen unter ein Dach zurück, ein Käfer stand da. Ein Flüchten hatte eingesetzt. Auch der Junge im roten Hemd wandte sich dem Hofausgang zu. Polizisten ergriffen ihn, schlugen auf ihn ein.
    Da sah ich plötzlich den Hansel wieder, den Polizisten in Zivil. Wieder traf mich sein Blick. Es war etwas Furchtbares darin, eine Lust, die mich entsetzte. Plötzlich streckte er den Arm, ich sah die Mündung einer Schusswaffe. Er zielte auf mich. Hinter dem Rücken der Kollegen, die auf den Mann im roten Hemd einprügelten. Er hatte es angekündigt, jetzt würde er mich töten. Doch dann rutschte die Mündung einen Tick zur Seite, neben mich. Auf Marie! Ich hatte nur einen Gedanken: Ihr darf nichts passieren! Sonst ist es aus mit mir. Das wäre mein vollständiges Scheitern vor mir selbst und allen Idealen, die ich hätte, dann brauchte ich nichts mehr zu studieren, nichts mehr zu werden, den Kampf um meine Zukunft nicht aufzunehmen. Natürlich dachte ich das nicht in diesen Worten, es war einfach eine tiefe Gewissheit in mir. Es war wie ein Reflex, dass ich mich abwandte und zu Marie umdrehte, um sie zu decken. Dem Hansel kehrte ich dabei den Rücken zu. Ein Schuss fiel!«
    »Oh!«
    Richard zündete sich die zweite Zigarette an. »Ich fiel gegen Marie, sie fiel mit mir gegen den VW-Käfer, der dort stand.«
    »Aber wie …?« Ich begriff nicht.
    »Da fiel der zweite Schuss. Als wir uns wieder aufgerappelt hatten, Marie und ich, und ich mich umdrehte, lag der Mann im roten Hemd schon am Boden, Polizisten schlugen noch immer auf ihn ein. Er krümmte sich.«
    Das war der Moment, wo Richard mir fürchterlich leidtat. Nicht einmal mit seinem Zwiebelrostbraten hatte ich ihn glücklich werden lassen.
    »Marie schrie: ›Aufhören!‹ Ich hielt sie fest. Die Polizei drängte uns ab. Und da lag der junge Mann, auf der Seite wie ein Schlafender, Blut auf dem Betonboden, ganz allein. Wir schrien nach einem Arzt. Ich weiß nicht, wie lange er dort gelegen hat, ohne dass irgendjemand sich seiner annahm. Irgendwann drehte eine junge Frau ihn auf den Rücken und schob ihm etwas unter den Kopf. Ich stand wie gebannt – Marie hatte ich völlig vergessen – und sah zu, wie das Leben aus einem Menschen wich. Der Rumpf erschlaffte, der Kopf rollte zur Seite, die Fü ße mit den Sandalen sanken in eine Lage, die mit der Zeit schmerzen musste, seine Glieder fielen auseinander, der Körper streckte sich unnatürlich, die Augen standen halb … halb offen. Offiziell heißt es, Benno Ohnesorg sei erst auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Später, als ich meine erste und letzte Leiche in der Gerichtsmedizin von Tübingen sah, noch nicht entkleidet, die Glieder wie auseinandergefallen, die Augen halb offen, da sah ich ihn wieder vor mir … und … das Entsetzen über meine damalige Ohnmacht, meine Tatenlosigkeit warf mich um.«
    Er war in der Gerichtsmedizin umgekippt und hatte davon Abstand genommen, sich ins Dezernat für Gewaltdelikte zu orientieren.
    »Wer weiß, ob es die RAF jemals gegeben hätte, wäre Benno Ohnesorg nicht

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