Malefizkrott
Schrader mitbekommen und sich an meine Fersen geheftet, um herauszufinden, was ich so treibe. Als ich dann zufällig Durs Ursprung auf dem Schlossplatz über den Weg lief, hat es ihn gepfupfert, ein erstes Zeichen zu setzen. Er hat Ursprung erschossen, als gerade alle auf die Diskussion in der Filiale Walfisch konzentriert waren. Seltsamerweise hält er sich bei seinen Aktionen an die anonymen Drohbriefe, die – den Aussagen von Lola Schrader und Nino Villar zufolge – gar nicht von ihm sind. Daraus schließe ich, dass er sich Zugang zum Drahtlosnetzwerk der Schraders verschafft hat und sich auf beiden Computern bewegt. So schwierig soll das ja nicht sein, aber er muss Computerkenntnisse besitzen, die über die eines Normalnutzers hinausgehen. Wir suchen also nach einem Mann zwischen dreißig und vierzig, Mitglied in einem Schützenverein, auf dem Land aufgewachsen, Hauptschulabschluss oder weniger, vermutlich arbeitslos, weshalb er genug Zeit hat, sich mit den nötigen Computerkenntnissen zu versorgen und durch die Gegend zu fahren, wahrscheinlich mit dem Fahrrad …«
Meisner lachte.
»Die Buchhandlungsbrände«, erklärte ich. »Sie sind innerhalb eines Radius passiert, die in sportlicher Radfahrer an einem Tag schafft. Die Fitnessstudios und Fahrradfernwege sind voller Arbeitsloser.«
»Reine Spekulation!«, bemerkte Meisner.
»… und der es sich«, spekulierte ich weiter, »zur Aufgabe gemacht hat, Bücher zu vernichten wie Ungeziefer. Vielleicht war der Schuss auf Durs Ursprung nur eine Vorübung für den finalen Schuss auf Lola Schrader, den er zu einem ihm geeignet scheinenden Zeitpunkt, den wir hoffentlich vorher wissen, ausführen wird. Vielleicht aber fackelt er nicht nur Buchhandlungen ab, sondern erschießt auch alle Buchhändler, die Lola Schrader zu einer Lesung eingeladen haben. In diesem Fall befände sich Manuela Kantor von Thalestris in Tübingen in höchster Gefahr!«
Finkbeiner hustete, als hätte sich eine Mücke in seine Kehle verirrt. Meisner schob ihm fürsorglich die Spru delflasche hin.
»Frau Nerz«, knarzte er, als er sich wieder erholt hatte. »Ihre Fantasie in Ehren, aber so funktioniert das nicht. Die Fallanalyse hat nichts mit Intuition und Kurzschlüssen zu tun, die Sie hier so suggestiv und durchaus unterhaltsam vortragen. Das taugt bestenfalls für einen Krimi, wo niemand Zeit und Nerven hat – weder Autor noch Leser –, sich mit der aufwändigen Detailarbeit der Tatortanalyse zu befassen. Wir machen, bevor wir nicht die Tathergänge auf die Sekunde genau kennen, keinerlei Aussagen über den Täter. Eine Fallanalyse ist Millimeterarbeit, auf die Sekunde genau rekonstruieren wir jede Phase der Tat, klopfen jeden Tatabschnitt darauf ab, welches Risiko der Täter eingegangen ist, welches Risiko das Opfer hatte, Opfer zu werden, wie er die Situation unter seine Kontrolle gebracht hat, wo sie ihm außer Kontrolle geraten ist oder wie er seine Flucht bewerkstelligt hat, organisiert oder spontan. Eine derartige Analyse wird nicht in anderthalb Stunden im Büro der Staatsanwältin hingerotzt. Sie wird nach Aktenlage, aufgrund der Vernehmungsprotokolle, kriminaltechnischen Untersuchungen und Fotos, die wir von den Ermittlern bekommen und durch eigene Recherchen vor Ort ergänzen, gründlich vorbereitet und dauert, wenn man das Verbrechen in einzelnen Phasen nachstellt und durchspielt, wiederum mehrere Tage. Wenn wir dann von Tathergang und Dynamik ein klares Bild haben, suchen wir vergleichbare Fälle und formulieren anhand statistischer Merkmale ein typisches Täterprofil. Das alles ist nicht Intuition und Prophetie, sondern trockene Statistik, Frau Nerz. Ordentliche Tatorte mit geringem Täterrisiko und hohem Opferrisiko – ein Prostituiertenmord in dunkler Seitengasse beispielsweise – ordnet man beispielsweise gebildeteren Tätertypen zu als chaotische Tatorte, die auf wenig Planung schließen lassen. Wer sein Opfer in der Kneipe anspricht und verführt, kann reden. Wer nicht reden kann, überfällt es in einer dunklen Ecke und schlägt gleich zu, um es wehrlos zu machen. Was ich damit sagen will: Eine operative Fallanalyse dauert alles in allem zwei bis drei Wochen und wir unternehmen sie nur, wenn die Kollegen bei der Soko nach Wochen noch keine heiße Spur haben. Und nur in 15 Prozent der Fälle finden wir neue entscheidende Hinweise.«
Etwas enttäuscht war ich schon. Ich hatte Profiler bisher für autistische Psychologen mit dem zweiten Gesicht gehalten, die sich auf
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