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Malenka

Malenka

Titel: Malenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Korschunow
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Mensch prinzipiell, ordentlich und genau, der demnächst, da ihm ein russisches Geschoß das linke Schultergelenk zertrümmert hatte, an die Universität zurückzukehren hoffte, um dort eine Doktorarbeit in seinem Fach Paläontologie abzuschließen über die Vielfalt einer Spezies von Ammoniten im Mesozoikum.
    »Wie viele Sorten gibt es denn?« fragte Margot und konnte sich, als er von Hunderten sprach, die es zu bestimmen, einzuordnen, zu tabellieren galt, nicht vorstellen, wie ein Mensch dergleichen über sich bringen könne, Muscheln tagaus, tagein, versteinerte dazu, war aber dennoch voller Bewunderung. Denkbar, daß sie sich hauptsächlich in diese Gelehrsamkeit verliebte, weniger in den Mann als in den künftigen Doktor mit seiner Welt aus geologischen Formationen. Paläozoikum, Mesozoikum, magische Worte, die sich durch ihn entschlüsselten. Und vielleicht war Helmut Blumer in diesem Sommer, als sie schon fast begonnen hatte, sich mit Zins und Zinseszins zu arrangieren, doch der Richtige, zumindest in gewisser Weise.
    »Du bist so lernbegierig«, sagte er. »Warum hast du kein Abitur gemacht?«
    Sie waren zum Madüsee gefahren mit den Rädern, langsam und vorsichtig, denn er konnte nur mit einem Arm die Lenkstange halten. Bei ihrer ersten Begegnung vor einem Monat hatte er den linken Arm noch auf einer Schiene tragen müssen, dick verbunden, weit von sich gestreckt, und Margot, die im Kino zufällig neben ihm saß, konnte Spuren des fauligen Wundgeruchs wahrnehmen. Sie hatte versucht, zur Seite zu rücken. Doch dann war ihm das Käppi von den Knien gerutscht, und weil sie seine hilflosen Versuche sah, sich zu bücken, hob sie es auf. »Vielen Dank, gnädiges Fräulein«, sagte er, eine in Pyritz, zumindest in Margots Umgebung so unübliche Anrede, daß sie ihm verblüfft ins Gesicht sah. Es war lang und schmal, intelligent, dachte sie, und später, als er wissen wollte, wie ihr der Film gefallen habe, auch gleich anfing, in wohlgeformten Sätzen seine Meinung zum Kino an sich darzulegen, vergaß sie den Geruch. Am nächsten Tag ließ er sich die Stadt von ihr zeigen, zum ersten Mal, daß sie das Innere der Mauritiuskirche, die Schönheit des Gewölbes im Nachmittagslicht, bewußt wahrnahm. Danach trafen sie sich, wenn er Ausgang hatte. Und nun der Madüsee. Nicht bei Werben, wo einst Fräulein Lerche so unbekümmert neben Hanno Feit gelegen hatte, sondern die Giesenthaler Seite mit dem schilfverwachsenen, brackigen Wasser und der Uferstreifen grün und still.
    Sie saßen dicht nebeneinander, er küßte sie, ein Schauer, der von den Lippen durch ihren Körper lief, dann war es wieder vorbei, viel zu schnell, genau wie davor schon im Bürgerpark. Sie hatte es dort auf die Spaziergänger geschoben, die jeden Augenblick auftauchen konnten, und dann noch sein Arm. Aber jetzt benötigte er keine Schiene mehr, auch die Löcher in der Schulter waren fast verheilt, und dennoch nichts von dem, worauf sie wartete, keine Vertrautheit, er hier, sie dort. Warum küßt du mich überhaupt, hätte sie ihn gern gefragt. Doch Fragen dieser Art ließ ihre Beziehung nicht zu, in der alles vage blieb, die Berührungen wie die Worte, obwohl er unaufhörlich mit ihr redete. Über seine Geologie natürlich, auch gern über historische Themen, Napoleons Feldzüge vorzugsweise, das Spezialgebiet seines Vaters und Tischgespräch daheim. Und momentan beschäftigte ihn Schopenhauer, den er verführerisch fand, aber zu pessimistisch, man müsse vorwärts blicken und seine Pflicht erfüllen, Kant sei da ergiebiger. Ein gebildeter Diskurs, darüber schienen sie nicht hinauszukommen, so als habe das, was Margot bewegte und ängstigte, die gegenwärtigen Feldzüge etwa und wohin sie fuhren sollten, mit seiner Welt nichts zu tun. Kaum etwas vom Krieg, der ihm die Schulter zertrümmert hatte, sei still, ich will es aus dem Gedächtnis streichen. Sie wußte wenig von ihm, er wenig von ihr, Barrieren überall, aber vielleicht trug auch sie Schuld daran, die alte Furcht, einen Fremden in die Kleine Wollweberstraße zu lassen, den Sohn eines Professors noch dazu, und sie mit der polnischen Großmutter und dem Ingenieur Kremer. »Er ist tot«, hatte sie auf die Frage nach ihrem Vater geantwortet, beschämt über die Lüge und zornig, weil Helmut Blumer nicht mehr einsetzte, um die Wahrheit aus ihr herauszuzwingen. Sie sehnte sich nach Nähe, seelisch, nannte sie es, spürte dabei aber seine Hand und seine Haut, und das war es, was sie wollte.
    Das

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