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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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mich entschieden, ihn trotz seines hoheitsvollen Auftretens weiterhin zu
     duzen), »hast du wohl im großen Priesterseminar studiert?«
    »Aber gewiß«, sagte Fulbert, und seine schweren Lider verschleierten die scheelen Augen.
    »Und in welchem Jahr bist du eingetreten?«
    »Nach was für Dingen du mich da fragst!« sagte Fulbert mit einem unschuldsvollen Auflachen und hielt weiterhin den Blick gesenkt.
     »Das ist so lange her! Ich bin ja kein junger Mann mehr«, fügte er kokett hinzu.
    »Nun gut«, sagte ich, »streng dein Gedächtnis an. Das Jahr, in dem einer ins große Seminar eintritt, muß für einen Geistlichen
     immerhin etwas bedeuten.«
    »In der Tat«, sagte Fulbert mit seiner schönen tiefen Stimme. »Das ist ein Datum.« Und da ich still blieb, redete er, durch
     mein Schweigen in die Enge getrieben, weiter: »Nun … Im Jahr 56 muß es gewesen sein … Ja«, bestätigte er nach einer erneuten
     Gedächtnisanstrengung, »im Jahr 56 …«
    »Das dachte ich mir schon«, sagte ich sofort mit beglückter Miene. »Da bist du zur gleichen Zeit wie mein Freund Serrurier
     ins große Seminar von Cahors eingetreten.«
    »Bloß … wir waren so viele im großen Seminar«, sagte Fulbert mit einem schwachen Lächeln. »Ich kannte dort nicht alle.«
    |233| »Doch nicht im ersten Jahrgang«, fing ich wieder an. »Und dann, ein Bursche wie Serrurier, der bleibt nicht unbemerkt. Eins
     vierundneunzig und brandrotes Haar.«
    »Ach ja, natürlich, jetzt, da du ihn beschreibst …«
    Fulbert hatte stockend geredet und schien sehr erleichtert, als ich ihn bat, uns von La Roque zu erzählen.
    »Nach der Bombe«, sagte er in Trauerton, »haben wir uns einer sehr schmerzensreichen Aufgabe unterziehen müssen.«
    Das Wort »schmerzensreich« fiel mir auf. Ich habe es immer nur aus dem Munde von Geistlichen oder von solchen vernommen, die
     sie nachäffen. Für sie ist es beinahe ein Fachausdruck. Und trotz seines unangenehmen Nebensinns scheint es ihnen eine Art
     von Befriedigung zu verschaffen. Ich habe gehört, daß junge Geistliche es nicht mehr verwenden. Wenn dem so ist, um so besser.
     Es ist ein Wort, das mich durch seine Gefälligkeit abstößt. Der Schmerz – vor allem der Schmerz anderer – ist immerhin nichts
     zum Degustieren und sollte nicht schönen Seelen als Ornament dienen.
    Fulbert hingegen delektierte sich an seiner »sehr schmerzensreichen Aufgabe«. Sie hatte für die Überlebenden darin bestanden,
     zu begraben, was von den Toten übriggeblieben war. Auch wir hatten das kennengelernt, aber wir redeten nie davon.
    Da er uns keine Einzelheit ersparte, fragte ich ihn, um den Gesprächsgegenstand zu wechseln, wie die Menschen in La Roque
     lebten.
    »Gut und schlecht«, sagte er kopfschüttelnd und ließ seine schönen Augen melancholisch um den Tisch schweifen. »Gut in geistlicher
     Hinsicht, ziemlich schlecht in materieller. In geistlicher Hinsicht«, fuhr er, die Augen halb schließend, fort und stopfte
     sich ein dickes Stück Schinken in den Mund, »muß ich sagen, daß ich höchst zufrieden bin. Der Eifer beim Gottesdienst ist
     bemerkenswert.«
    Da er bei Meyssonnier und mir ein gewisses Erstaunen feststellte (denn in La Roque hatte der Gemeinderat aus Sozialisten und
     Kommunisten bestanden), fuhr er fort: »Es wird euch vielleicht überraschen, aber in La Roque gehen alle Leute zur Messe, und
     alle empfangen das heilige Abendmahl.«
    »Und worauf führst du das zurück?« fragte Meyssonnier, ärgerlich die Stirn runzelnd.
    |234| Ich war betroffen von der Strenge in seinem langen Profil. Ganz offensichtlich war er von dem, was er eben erfahren hatte,
     schwer erschüttert. Obgleich sich mit dem Tag des Ereignisses seine Hoffnungen in nichts aufgelöst hatten, dachte Meyssonnier
     noch immer, die Probleme der Welt drehten sich um Gemeinderäte, die von der Union der Linkskräfte zu erobern wären. Ich versetzte
     ihm unter dem Tisch einen leichten Fußtritt. In manchen Augenblicken muß man offen sein, in anderen weniger. Mein Mißtrauen
     gegenüber Fulbert wuchs von Minute zu Minute. Ich zweifelte nicht an seinem Einfluß auf die Überlebenden von La Roque und
     fand ihn besorgniserregend.
    »Nach der Bombe«, sagte Fulbert mit seiner schönen tiefen Stimme, die sich ihrer selbst zu freuen schien, »haben die Menschen
     Einkehr bei sich gehalten und ihr Gewissen erforscht. Ihre physischen und besonders ihre moralischen Leiden waren derart groß,
     daß sie sich fragen mußten, ob nicht ein

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