Malevil
genug entschlossen, auf die Plünderer zu schießen.«
Meyssonnier hebt die Arme zum Himmel.
»Man muß aber auch gerecht sein!« erklärt er mit erhobener Stimme. »Wenn das ein Fehler war, hast du ihn nicht allein begangen.
Keiner von uns war darauf aus, auf diese armen Menschen zu schießen. Sie waren so mager! Und so ausgehungert!«
»Thomas«, frage ich, »hast du das auch so empfunden?«
»Ja«, sagt er ohne Zögern.
Diese Korrektheit schätze ich an ihm: Er lügt nicht, selbst wenn er damit seine These erschüttert.
»In diesem Falle«, sage ich, »haben wir zu schließen, daß es ein Fehler von uns allen gewesen ist.«
»Ja«, sagt Thomas, »aber verantwortlich bist du mehr als ein anderer, denn du bist der Chef.«
Ich hebe beide Hände. »Das ist genau der Punkt: Bin ich der Chef? Ist man der Chef, wenn zwei Erwachsene aus der Gruppe, die
man angeblich befehligt, mitten im Kampf den Befehl verweigern?«
Langes Schweigen. Mag die Stille nur ein wenig drückend werden. Und mag Thomas ruhig noch ein wenig im eigenen Saft schmoren.
|371| »Meiner Ansicht nach«, sagt Colin, »ist die Situation keineswegs klar. Es gibt die Versammlung von Malevil und die gemeinsamen
Beschlüsse. Schön. Emmanuel spielt in dieser Versammlung eine bedeutende Rolle. Aber wir haben nie erklärt, daß im Notfall,
wenn keine Zeit mehr zum Diskutieren ist, Emmanuel der Chef sein soll. Und meiner Ansicht nach muß das gesagt werden. Damit
jeder weiß, im Falle von wirklicher Gefahr gibt es über einen Befehl von Emmanuel keine Diskussion.«
Meyssonnier hebt die Hand.
»Genau das«, sagt er befriedigt. »Das habe ich am Anfang sagen wollen, als ich davon sprach, daß die Organisation nicht gut
war. Ich möchte sogar sagen, die Art, wie sich das abgespielt hat, war mehr als kläglich. Die Leute haben angefangen, in alle
Himmelsrichtungen auseinanderzulaufen, ohne auf jemand zu hören. Um Malevil zu verteidigen, befanden sich zu diesem Zeitpunkt
nur die Falvine und Miette auf dem Wall. Dazu kommt noch, daß Miette wohl schießen kann, aber nicht einmal eine Flinte hatte!«
»Du hast recht«, sagt Peyssou und schüttelt seinen schweren Kopf. »Ein Saustall war es! Da hat sich in den Rhunes der arme
Momo herumgetrieben, der dort nichts zu suchen hatte. Die Menou war auch nicht, wo sie hingehörte, weil sie sich um Momo kümmern
mußte. Evelyne, die hing Emmanuel am Rockzipfel. Und da gab es …«
Er stockt und wird rot bis über beide Ohren. Er hätte sich fast hinreißen lassen, Thomas mit in seine Aufzählung einzuschließen.
Es tritt Schweigen ein. Thomas, die Hände in den Hosentaschen, blickt niemand an.
»Das ist so wie deine Idee«, sagt Peyssou auf einmal und streckt seine schwere Pranke nach Thomas aus. »Das ist so wie deine
Idee«, wiederholt er mit dröhnender Stimme, »mit Catie aus Malevil davonzulaufen: an Blödheit nicht zu übertreffen!«
»Ich bin ganz deiner Meinung«, sage ich sofort.
»Wohin willst du überhaupt gehen, du Idiot?« sagt Peyssou und legt unglaublich viel Wärme und herzliche Zuneigung in seine
Beschimpfung.
Colin fängt, wie immer im rechten Augenblick, zu lachen an, und sein Lachen hat den richtigen Klang. Es gibt uns den Grundton
an, den wir nachzusingen haben. Dieses Gelächter |372| entspannt die Atmosphäre so weit, daß auch Thomas auf seinen zusammengepreßten Lippen ein Lächeln zeigt. Sein Körper entkrampft
sich, er nimmt sogar die Hände aus den Taschen.
Nach diesem Gelächter wird abgestimmt, und ich werde mit allen Stimmen außer meiner eigenen, die ich Meyssonnier gebe, zum
militärischen Chef von Malevil »in Fällen von Dringlichkeit und Gefahr« gewählt. Wobei sich versteht, daß alle Beschlüsse,
selbst solche, die die Sicherheit betreffen, wenn keine Dringlichkeit vorliegt, durch die Versammlung gefaßt werden. Ich bedanke
mich und beantrage dann, daß mir Meyssonnier als Stellvertreter beigegeben und für den Fall meiner Verwundung zu meinem Nachfolger
bestimmt werde. Neue Abstimmung, die meinen Antrag billigt.
»Ich möchte«, sage ich, »auf den Gesichtspunkt zurückkommen, den Colin anfangs geäußert hat. Gut, wir haben alle empfunden,
daß es schrecklich war, auf diese armen Teufel zu schießen. Daher unser Zaudern. Trotzdem möchte ich etwas dazu sagen. Wenn
unser Zaudern Momo das Leben gekostet hat, war es nicht der richtige Reflex. Wir leben seit dem Tag des Ereignisses nicht
mehr in dem gleichen Zeitalter wie
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